Berlin: Pralles Leben, trotz der Narben
Einst durch die Mauer getrennt, ist Berlin heute Schmelztiegel der Kulturen.

Wer an Berlin denkt, denkt an Weltgeschichte. Napoleon, der als Eroberer durchs Brandenburger Tor marschiert, Nazis im Größenwahn, sowjetische und amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie und natürlich Mauerfall und Wende. Dass sich die Stadt, und damit das Land, heute so jung und lebendig präsentiert, spricht für ihren Erneuerungswillen. Und doch – "die Narben sieht man nicht, denn sie liegen unter der Haut".
Das sagt Rolf Kranz zwar über sich selbst als ehemaligen Stasi-Häftling. Doch trifft die Analogie des 66-Jährigen auch auf seine Wahlheimat Berlin zu. Denn sie ist nicht nur Heimat des Bundestags, des Kurfürstendamms und der Präsidentenresidenz Bellevue, sondern beherbergt verwunschene Orte wie den Teufelsberg im Grunewald. Hier betrieben die Alliierten eine Abhörstation. Die markanten Kuppeltürme sind seit dem Fall des Eisernen Vorhangs verwildert, verfallen und zur Leinwand von Graffiti-Künstlern geworden.

"Die Stadt hat auf allen Ebenen ihre Reize", sagt der gebürtige Sylter Kranz. In den wilden 1980er Jahren verschlug es ihn hierher, "der Neugier wegen". Mit 21 Monaten Haft bezahlte er einen bierseligen Abstecher in den Osten der Stadt. Seinen Passierschein überließ er einem Fluchtwilligen, heute leitet er Führungen durch den einstigen Stasi-Knast Hohenschönhausen.
Noch immer finden sich Abschnitte des Todesstreifens
Am ehemaligen Mauerstreifen sind die Narben am deutlichsten zu sehen. Noch immer finden sich Abschnitte des Todesstreifens, der die Stadt in zwei teilte. Wo einst Selbstschussanlagen und Wachtürme den Grenzübergang verhinderten, werden heute im Mauerpark, der den Wedding vom Prenzlauer Berg trennt, Grillfeste abgehalten. In sattem Grün und mit viel Wasser sind die Narben übertüncht. Zahlreiche Parks und Seen bieten den Berlinern eine Auszeit vom Gewusel der Metropole.

Die zeigt sich farbenfroh und multikulturell. "Berlin war schon immer toleranter", sagt Kranz. Auf der Straße wird Türkisch gesprochen, Arabisch, Spanisch und Englisch. Viele Alteingesessene zogen nach dem Mauerfall in den brandenburgischen Speckgürtel. "Die Berliner Schnauze hört man eher außerhalb", sagt Kranz, der schätzt, dass die Hälfte der heutigen Einwohner zu Wendezeiten noch anderswo zu Hause war. Menschen aus 190 Ländern nennen Berlin ihre Heimat. Mit 42,6 Jahren verzeichnet Berlin nach Hamburg den jüngsten Altersschnitt aller Bundesländer. Seit 2001 dominieren politisch die linksdemokratischen Parteien. Aktuell regiert eine Rot-Rot-Grüne Koalition.
Berlin ist für Künstler die Leinwand

Zu den Zugezogenen gehört Ben Smith. Der Neuseeländer landete vor 14 Jahren an der Spree. Zu eng war dem Künstler die Heimat geworden. "Manchmal ist es besser, ein kleiner Fisch in einem großen Teich zu sein, als ein großer Fisch im kleinen Teich." In der Nähe des berühmt-berüchtigten Kottbusser Tors, im Herzen Kreuzbergs, betreibt er im Kollektiv die Kunstgalerie Let it Bleed. Jahrelang gab er Stadtführungen mit Fokus auf Straßenkunst.
Einst unter der Fuchtel von Friedrich dem Großen eine Hochburg des spießbürgerlichen Militarismus, ist die Hauptstadt heute "der perfekte Schmelztiegel für Kreativität". Denn nicht nur renommierte Museen und Galerien wie das Bode-Museum oder der Hamburger Bahnhof definieren die Kulturmetropole.

Die Stadt selbst ist für Künstler die Leinwand. Kaum eine Hausecke in Kreuzberg, Friedrichshain oder Neukölln bleibt von der Sprühdose verschont. "Früher war die Stadt zu klamm, um alle Graffiti zu beseitigen", glaubt Smith. Mittlerweile sei es ein Besuchermagnet. Frei nach dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit heißt das: "arm aber sexy."
Reich und sexy geht es im Westen und in Berlin-Mitte zu. Justin Bieber stieg im Grunewald in einer Privatvilla ab, Michael Jackson hielt einst sein Baby aus dem Fenster des Adlon, Tom Cruise jagte auf einer Harley-Davidson den Ku"damm hinunter und zur Berlinale gibt sich regelmäßig die Creme der internationalen Filmszene die Klinke in die Hand. Auch in Sachen Bildung ist Berlin elitär. Freie Universität, TU und Humboldt-Universität zählen zu den besten des Landes. Gleich drei Flughäfen verbanden Berlin lange mit der Welt. Abgelöst wurden sie erst im Oktober vom Megaprojekt BER. Wie ein stillgelegter Flughafen am besten genutzt wird, zeigt sich am Tempelhofer Feld: Eine Narbe mehr, die begrünt und zum Leben erweckt wird.
Zum Autor
Sebastian Kohler ist Berlin durch viele langjährige Freundschaften verbunden. Recherchiert hat er auf der Ausbildungsstation im Bundespressehaus im Regierungsviertel.
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