Hessen: Mittendrin in den Gegensätzen
In der Serie "Unser Land" werden bis zur Bundestagswahl die 16 deutschen Bundesländer aus dem individuellen Blickwinkel wechselnder Redakteure vorgestellt. Hier geht es um Hessen, das ein bisschen wie Deutschland im Kleinen ist, und doch sehr speziell. Wenn es bloß nicht so viele bedenkliche Vorfälle am rechten Rand gäbe.
Seit dem Brexit schickt sich Frankfurt am Main an, London den Platz an der Spitze unter den europäischen Finanzmetropolen streitig zu machen. Zumindest bei den Immobilienpreisen hat es das fast schon geschafft – Blasenbildung inbegriffen. Doch als Wahrzeichen des ganzen Bundeslands Hessen taugt die Skyline nur bedingt. Zu vielfältig sind seine Kultur und Struktur.
Äppelwoi neben dem Wolkenkratzer
Einen Vorgeschmack gibt es gleich um die Ecke: in Frankfurt-Sachsenhausen kann man ebenso guten "Handkäs mit Musik" zum Äppelwoi genießen wie in den ländlichen Regionen. Und davon gibt es einige. Hessen ist ein Land der Gegensätze. Großbanken, Großflughafen und Großindustrie prägen das Bild zwischen Hanau und Rüsselsheim, zwischen Darmstadt und Bad Homburg. Und es gibt die kleinen Örtchen im Odenwald, im Spessart oder in der Wetterau, wo Fachwerkhäuser und Hofreiten die Straßen säumen und die Menschen nach alter Väter Sitte leben oder auch jeden Tag dorthin pendeln, wo das Geld verdient wird.

Immer bereit zum Wandel
Der Industriepark Höchst im Westen Frankfurts zeugt davon, dass manches Unternehmen die besten Zeiten hinter sich hat – und die Wirtschaft doch immer wieder zur Veränderung bereit ist. Hier hatte der Pharma- und Chemieriese Hoechst seine Heimat, erwirtschaftete mit 180?000 Mitarbeitern Milliardengewinne.
Er ist verschwunden, doch das Geschäft der chemisch-pharmazeutischen Industrie, das rund ein Viertel der hessischen Industrie ausmacht, läuft auch dort weiter. Wenn Deutschland einst als "Apotheke der Welt" bezeichnet wurde, dann gilt das heute zumindest noch ein bisschen für dieses Bundesland.

Regiert wird Hessen von einer schwarz-grünen Koalition unter Ministerpräsident Volker Bouffier, die seit 2014 zusammenarbeitet. Die Konstellation könnte wegweisend auch für den Bund sein – unter welchen Vorzeichen auch immer. Nicht unter den Tisch fallen lassen darf man allerdings die SPD, die vielerorts tief verwurzelt ist und zuletzt bei den Kommunalwahlen im Frühjahr noch immer deutlich besser abschnitt als die erstarkten Grünen.
Auf den ersten Schock folgte ein weiterer, und dann noch einer
Politisch ist in Hessen allerdings nicht mehr alles in Ordnung, seitdem vor gut zwei Jahren der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von Rechtsextremen ermordet wurde. Kurz darauf folgte der Mordanschlag auf einen Eritreer in Wächtersbach. Wenige Monate später erschoss ein 43-Jähriger in Hanau mehrere Menschen – aus rassistischen Beweggründen.
Parallel dazu tauschten sich Dutzende Polizisten in rechtsextremen Chats aus. Ungeklärt bleiben Verstrickungen in die Morddrohungen des sogenannten NSU 2.0. Ereignisse, die den hessischen Innenminister Peter Beuth ein ums andere Mal in Erklärungsnot bringen. Doch letztlich steht Hessen mit diesen Problemen nicht isoliert, sondern eher stellvertretend für Deutschland.

Frankfurt ein Kandidat für die Bundeshauptstadt
Es ist ja auch der Mittelpunkt der Republik (oder zumindest ein Mittelpunkt von mehreren, je nach Berechnungsmethode). Hier startete mit der ersten deutschen Nationalversammlung 1848 in der Paulskirche der Parlamentarismus, man beschwor die deutsche Einheit und Freiheit.
Frankfurt war später sogar Kandidat für die Bundeshauptstadt. Hier begrüßt man auf dem Römerberg traditionell die deutschen Fußballer nach einem erfolgreichen Turnier. Das hat natürlich mit dem Flughafen zu tun, dem größten in Deutschland. Der war unter normalen Bedingungen jährlich Ziel von 70 Millionen Fluggästen.
Was typisch hessisch ist, lässt sich kaum sagen. "Die Vielfalt", heißt es immer wieder. Typisch hessisch ist in manchen Landesteilen also auch der enge Draht in die USA. So wie Elvis einst in der Friedberger PX einkaufte – einem Markt für ?US-Soldaten –, so fanden dort lange Zeit auch deutsche Nachbarn sonst kaum erreichbare amerikanische Spezialitäten. Das war einmal. Vertreten sind die US-Streitkräfte heute noch im Raum Wiesbaden, doch der selbstverständliche Umgang von einst gehört der Vergangenheit an.
Am liebsten unterschätzt
Bleibt die Sprache. Lange Jahre war das Bild der Hessen geprägt von Heinz Schenk und seinem "Blauen Bock". Mitte der 80er sangen die Rodgau Monotones "Erbarmen – die Hesse komme". Und Maddin Schneider zelebrierte selbstironisch und lustvoll die Aussprache des "Aschebeschers". "Im Prinzip waren wir schon immer der VfL Bochum der Dialekt-Tabelle", stellte Badesalz-Comedian Henni Nachtsheim einmal in einem Interview fest. Doch immerhin werde man damit unterschätzt. Das gefällt den Hessen.

Zum Autor
Christian Gleichauf pflegt Freundschaften zu hessischen Originalen in der Wetterau und der Mainebene. In der Serie "Unser Land" werden bis zur Bundestagswahl die 16 deutschen Bundesländer aus dem individuellen Blickwinkel wechselnder Redakteure vorgestellt.
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