Stimme+
Meinung
Lesezeichen setzen Merken

Ist Europa die große Vision oder eine Koalition der Willigen?

   | 
Lesezeit  4 Min
Erfolgreich kopiert!

In Europa ist man sich oft uneins: Braucht es mehr Europa? Oder sollte sich die EU auf ihre Kernaufgaben konzentrieren? Unsere Autoren haben sich diese Frage ebenfalls gestellt und sind geteilter Meinung.

von Marie-Luise Schächtele und Christoph Donauer
   | 
Lesezeit  4 Min

Pro: Europa braucht mehr Mut!

Von Marie-Luise Schächtele

 Foto: Veigel, Andreas

Erasmus, was für eine Zeit! Junge Menschen aus vielen Ländern der Europäischen Union studieren auf Zeit im Ausland oder machen ein Praktikum. Sie feiern, lachen und diskutieren miteinander. Und dadurch, dass sie einander kennenlernen und vieles über die Länder der anderen erfahren, wachsen die EU-Staaten für sie zusammen.

Wenn jemand Europa lebt, dann ist das die Generation Erasmus. Deshalb müssten auch europäische Auszubildende so leicht ins Ausland gehen können wie die Studierenden. Uns als Europäer zu verstehen, bereichert uns. Und viele drängende Probleme, die unsere Zukunft betreffen, lassen sich einfach besser über Grenzen hinweg lösen.

Die Corona-Pandemie hat nicht an den Grenzen der Nationalstaaten Halt gemacht. Ebenso wenig der Klimawandel oder erst die Digitalisierung. Auch von Jugendarbeitslosigkeit sind viele Länder gleichermaßen betroffen. In Deutschland dagegen herrscht Fachkräftemangel.

Nationalisten erschweren die Lösungssuche

Doch wie lässt sich in einer Union, in der die Interessen so vielseitig sind wie ihre Mitgliedsländer, in Grundsatzfragen Einigkeit erzielen, damit die EU endlich handelt? Da wären auf der einen Seite die wirtschaftlich starken und auf der anderen die schwachen Staaten. Die Länder des nördlichen und westlichen, des südlichen und östlichen Europas. Nationalistische Bestrebungen erschweren jedenfalls die Lösungssuche.

Aber muss es wirklich zu einer Föderation der Demokratien kommen, die Staaten wie Ungarn ausschließt, wie es manche immer wieder fordern? Kann nicht mehr Einfluss auf die Regierung Orbán genommen werden, solange Ungarn ein Teil der Gemeinschaft ist?

Die EU muss ihre Asylpolitik reformieren

Die Bürger der unterschiedlichen Länder der EU wachsen bereits jetzt zusammen, weil wir in einer Union leben, in den Grenzregionen, beim Reisen. So wie das Erasmus-Programm aus uns Europäer gemacht hat. Es ist an der Zeit, dass wir die Wertegemeinschaft wieder stärken. Die Mitgliedsländer müssen sich an die Grundwerte der EU halten. Wenn sie dagegen verstoßen, muss das Konsequenzen haben. Die EU muss dringend ihre Asylpolitik reformieren und Humanität zeigen.

Deutschland und Frankreich haben übrigens von der Dublin-Regelung – die vorsieht, dass Asylbewerber in dem Land registriert werden, in dem sie die EU betreten – profitiert und die Visegrád-Staaten haben es ihnen eben gleichgetan. Wir müssen mehr Verständnis für die Blickwinkel der süd- und osteuropäischen Länder aufbringen.

Die Verhandlungen mit dem Westbalkan sollten vorangehen

Gerade in diesen Tagen rückt mit dem Gedenken an den Völkermord im bosnischen Srebrenica auch wieder die bewegte Geschichte des Balkans ins Bewusstsein. Stabilität in der Region ist auch für uns wichtig. Denn in Europa und seiner näheren Umgebung gibt es wieder deutlich mehr bewaffnete Konflikte als in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. 

Die EU muss die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten des Westbalkans, darunter Montenegro, Serbien und Nord-Mazedonien, voranbringen. Dass sie davon sicherheitspolitisch und wirtschaftlich profitieren könnte, daran besteht wenig Zweifel. Im Moment gewinnen bereits China und Russland an Einfluss in der Region. Aber eine größere EU funktioniert nur, wenn die Länder sich wirklich aufeinander einlassen, so wie die Studierenden und Azubis im Erasmus-Programm. 


Contra: Europa sollte öfter im Kleinen gedacht werden

Von Christoph Donauer

 Foto: Mugler, Dennis

Wenn die Corona-Pandemie vorüber ist und Europa wieder ohne Grenzen auskommt, muss die Gemeinschaft öfter im Kleinen gedacht werden. Denn in Zeiten der digitalen Vernetzung ist die Gemeinschaft der Nationalstaaten zu behäbig, um die Probleme unserer Zeit zu lösen. 

Das beste Beispiel ist die Bewegung Fridays for Future. Europaweit haben sich Menschen der Schwedin Greta Thunberg angeschlossen und den Regierungen mächtig Dampf beim Klimaschutz gemacht. Oder man nehme Elon Musk, der die deutsche Autoindustrie beim Thema Elektroauto ins Schwitzen bringt.

Beide legen einen Enthusiasmus an den Tag, der der Europäischen Union oft fehlt. Dadurch tun sich immer mehr Themen auf, bei denen das große Europa untätig zuschauen muss, während im Kleinen gemanagt wird.

Die EU-Bürger wollen mehr mitbestimmen

Das zeigt sich bei der Migration: Während die EU-Länder es nicht schaffen, Flüchtlinge gerecht zu verteilen, bieten kurzerhand Städte ihre Hilfe an. Auch bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie waren es weniger die Länder, die sich gegenseitig unterstützt haben, als vielmehr Bürgerinitiativen wie der europäische Hackathon oder Unternehmen, die auf Maskenproduktion umgestellt haben.

Die Unionsbürger wollen stärker mitbestimmen und sich einbringen. Die jetzige Organisation der EU wird dem jedoch oft nicht gerecht. Dass das Europäische Parlament als direkt gewählte Bürgervertretung keine Gesetze vorschlagen darf, ist nicht mehr zeitgemäß.

Mehr Bürgernähe ist kein Selbstzweck

Zu undurchsichtig sind der Rat und die informellen Triloge. Und erst das Hin und Her bei der Kommissionspräsidentin! Stattdessen sollten Bürgerkonferenzen nach irischem Vorbild als zentrales Element im Gesetzgebungsprozess eingeführt werden. Es wäre ein Schritt zu einer EU, in der weniger in Brüssel und Straßburg und dafür mehr in ganz Europa entschieden wird. Mehr Bürgernähe ist dabei kein Selbstzweck.

Die EU steckt in einer Identitätskrise, die sich spätestens mit dem Brexit zu einer realen Bedrohung für die Gemeinschaft entwickelt hat. Für junge Menschen sind Frieden und offene Grenzen keine ausreichenden Argumente mehr, sie kennen es gar nicht anders. Stattdessen zählen Mobilität, gleiche Lebensverhältnisse, Vernetzung und digitale Techniken. 

Deshalb sollte sich die EU nun auf Zukunftsaufgaben konzentrieren: auf den Ausbau der digitalen Infrastruktur, auf den Umgang mit künstlicher Intelligenz und Clouds, auf EU-weite Mindestlöhne und eine Arbeitsversicherung oder auf den Ausbau eines grenzüberschreitenden Bahnnetzes. Vieles davon muss zwar groß gedacht, aber vor allem im Kleinen klug umgesetzt werden.

EU-Gelder sollten an Bedingungen geknüpft werden

Der Green Deal wird exemplarisch zeigen, ob die EU noch handlungsfähig ist. Denn es geht um nicht weniger als den Schutz unserer Lebensgrundlagen. Wer bei etwas so Fundamentalem nicht mitzieht, darf den Rest der Gemeinschaft nicht am Fortschritt hindern. Es ist sinnvoll, EU-Gelder an Bedingungen zu knüpfen, etwa an Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung vertraglicher Zusagen.

Wenn die EU eine glaubhafte Wertegemeinschaft sein will, muss sie es bestrafen, wenn jemand ständig die Spielregeln bricht. Gleichzeitig darf man erwarten, dass zuvor Überzeugungsarbeit geleistet wird und Kompromisse angeboten werden.  Denn eine „Koalition der Willigen“ ist nicht immer der beste Weg. Die „Sparsamen Vier“, die Visegrád-Gruppe und die deutsch-französische Freundschaft können viel bewegen. Doch es muss dabei das Interesse aller EU-Bürger im Vordergrund stehen.


Wie stehen Sie zum Thema Europäische Union?

Externer Inhalt

Dieser externe Inhalt wird von einem Drittanbieter bereit gestellt. Aufgrund einer möglichen Datenübermittlung wird dieser Inhalt nicht dargestellt. Mehr Informationen finden Sie hierzu in der Datenschutzerklärung.

Einstellungen anpassen


Mehr zum Thema

Stimme+
Heilbronn
Lesezeichen setzen

Drei Menschen berichten, was Europa ausmacht


Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung

Peter Henschel am 21.07.2020 09:44 Uhr

Europa sind nun mal keine vereinigten Staaten. Wir haben größtenteils 27 unterschiedlichster Länder, Traditionen und dergleichen mehr. Wir werden immer um Kompromisse uns bemühen müssen. Ein wichtiger Knackpunkt ist die Verknüpfung der Zuschüsse mit der Einhaltung von Grundwerten und Rechtsstaatlichkeit. Ein Land/Kontinent ohne Grenzen ist und bleibt eine Beute. Dazu kommt noch die mehr als fragwürdige Corona-Politik. Covid-19 kann gar nicht so viel Schaden anrichten, wie nun vorhanden ist.

Antworten
lädt ... Gefällt Nutzern Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
  Nach oben