Das Geiseldrama von Neuenstein - die Nacht, in der jedes Wort zählte
11. Oktober 1996: Mit drei Faustfeuerwaffen, 250 Schuss Munition, Klebeband und Pharmazeutika betritt ein 25-Jähriger die Bank in Neuenstein und nimmt sechs Menschen als Geiseln. Richter Roland Kleinschroth, der damals ein junger Staatsanwalt war, erinnert sich zurück an die Nacht, in der jedes Wort zählte.

Für die Autorin beginnt am Freitag, 11. Oktober 1996, der erste (und längste) Wochenend-Dienst als Redakteurin. Für Roland Kleinschroth ist es der erste Bereitschaftsdienst als junger Staatsanwalt. "Da ist man sowieso gut nervös", beschreibt Roland Kleinschroth, heute 56 und Richter am Landgericht Heilbronn, für beide treffend die Ausgangslage. Denn in Sachen Frotzelei stehen sich die Kollegen von Juristen und Journalisten in Nichts nach. Aber was dann kommt, übertrifft die schlimmsten Befürchtungen. Es ist 16.20 Uhr, als die Sparkassen-Filiale in Neuenstein bald schließen will. Doch dann betritt ein 25-Jähriger die Bank - mit drei Faustfeuerwaffen, 250 Schuss Munition, Klebeband und Pharmazeutika. Und das Drama nimmt seinen Lauf.
Geiselnehmer feuert wild um sich
Über 50 Schüsse feuert der Geiselnehmer in der Nacht ab, fordert ein Fluchtfahrzeug und fünf Millionen Mark. Stündlich, droht er an, werde er nach Ablauf des Ultimatums eine Geisel erschießen. 14 Stunden lang hat der Geiselnehmer sechs Menschen in seiner Gewalt. Erst im Morgengrauen des Samstags endet der Horror, der für eine Nacht Neuenstein zum Nabel der Welt macht.
Vertreter unzähliger Tageszeitungen, Agenturen, Fernsehanstalten und verschiedener Radiosender verfolgen hinter den Absperrbändern das Geschehen. Millionen Menschen werden an Radios und vor dem Fernsehbildschirm Zeuge der Geschehnisse. Bis 18 Uhr ist die Hohenloher Polizei weitgehend auf sich allein gestellt. Dann aber läuft die Maschinerie an. Scharfschützen des SEK beziehen in umliegenden Gebäuden und auf dem gegenüberliegenden Pfarrhaus Stellung. Auch Beamte des MEK (Mobilen Einsatz Kommando) kommen nach Neuenstein.
Nervenaufreibend für den jungen Staatsanwalt

Und Roland Kleinschroth. Der damals 32 Jahre junge Staatsanwalt bekommt um 18.15 Uhr von seiner heutigen Frau und damaligen Freundin den Hinweis, dass auf Videotext von einer Geiselnahme in Künzelsau die Rede sei. Gleichzeitig, erinnert er sich, klingelt sein Handy und die Polizei ruft an. Mit seinem damaligen Kollegen Martin Renninger habe er sich besprochen, was zu tun sei. Der habe ihm zugesichert, erreichbar zu sein, sollte er Hilfe brauchen. 20.45 Uhr, weiß Kleinschroth noch ganz genau, erreicht er Neuenstein, stellt sein Auto ab ("irgendwo, mitten auf der Straße, wie sich am nächsten Morgen herausstellte"). Polizeibeamte bringen ihn zur Einsatzleitung in die "Goldene Sonne", nahe der Sparkassen-Filiale und nahe dem Rathaus. Im dortigen großen Sitzungssaal wird der junge Staatsanwalt nur wenige Minuten nach seiner Ankunft vor Ort die erste von mehreren Pressekonferenzen dieser Nacht halten.
Täter ist im Radio zu hören
Was Kleinschroth von der Nacht nachhaltig in Erinnerung bleibt? "Die vertrauensvolle Zusammenarbeit", sagt Kleinschroth und berichtet von dem engen Verhältnis auch Jahre später noch zu dem damaligen Polizeichef Rudolf Thoma, zu den Sparkassenvorständen Otmar Göldenbot und Hermann Leidolf, zu Polizeipressesprecher Jürgen Merwald - und nicht zuletzt zu den Journalisten.
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Die Nerven aller sind bis zum Zerreißen gespannt. Alles, wird schnell klar, ist möglich. Vieles an dem Fall ist ungewöhnlich, neu. Vom Täter wie von den Journalisten werden erstmals in diesem Umfang neue Medien genutzt. Der Täter hält die ganze Nacht über Kontakt mit Radio und Fernsehanstalten. Wenigstens zehnmal ist er in der Nacht im Radio zu hören. Das ganze Land fiebert mit.
Fernsehsender an allen Ausfallstraßen
Die Medienvertreter sind - teils mit Handys ausgestattet - in der Lage, aktuell zu informieren. Die Heilbronner Stimme/Hohenloher Zeitung aktualisiert bis gegen drei Uhr morgens die ausführliche Berichterstattung. Dann ist der Akku des Handys leer, das ein freier Mitarbeiter gebracht hatte - allerdings ohne Ladekabel.

21.30 Uhr flüstert Jürgen Merwald Kleinschroth ins Ohr, dass an allen Ausfallstraßen Autos der Fernsehsender stehen würden. "Uns war klar, ein zweites Gladbeck muss vermieden werden", sagt Kleinschroth. Um 2.37 Uhr wurde er mit Blaulicht und durchdrehenden Reifen auf das Öhringer Revier gebracht. "2.47 Uhr waren wir dort." Der Geiselnehmer will nur mit ihm verhandeln. Kleinschroth schafft es tatsächlich, dass der Täter kurz nach sechs Uhr aufgibt. Um 6.32 Uhr verlassen die Geiseln die Bank. "Das Schlimmste war, ständig die Schüsse zu hören", erinnert sich Kleinschroth. Kurz danach fasst er bei der letzten Pressekonferenz die Ereignisse der Nacht zusammen, ehe er sich zu seinem schräg geparkten Auto begibt, um zur Eröffnung des Haftbefehls zum Amtsgericht Künzelsau zu fahren. "Das hat dann aber Martin Renninger übernommen", ist Kleinschroth noch heute dankbar für die Unterstützung.
Erlebte Extremsituation
Die gemeinsam erlebte Extremsituation hat den Blick auf vieles bei den Protagonisten verändert und Einfluss genommen auf das Leben. So wurde Kleinschroth Richter am Amtsgericht Öhringen, kannte er doch viele bei Polizei und Kripo. Auch dass er später als Richter am Landgericht lange die Pressearbeit machte und die Autorin über Kriminalität berichtet, hat seinen Grund in jener kalten Oktobernacht.
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