Stimme+
Ukraine-Krieg
Lesezeichen setzen Merken

Wo stehen wir in der Zeitenwende?

   | 
Lesezeit  3 Min
Erfolgreich kopiert!

Ein Jahr nach der denkwürdigen Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz gibt es erste Antworten auf diese Frage. Bei Energie, Migration und auch bei der europäischen Einheit gibt es noch manchen offenen Punkt.

Drei Tage nach der Invasion Russlands in der Ukraine erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz die "Zeitenwende". Die Neuausrichtung ist in vielen Bereichen zu beobachten, in manchen aber noch nicht.
Drei Tage nach der Invasion Russlands in der Ukraine erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz die "Zeitenwende". Die Neuausrichtung ist in vielen Bereichen zu beobachten, in manchen aber noch nicht.  Foto: dpa

Schnell, überraschend schnell ordnete Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine ein. Welche Folgen es für die Welt, für Deutschland und für jeden einzelnen haben würde. Fünf Handlungsaufträge identifizierte Scholz: Unterstützung für die Ukraine, Putins Russland wirksam zu sanktionieren, ein Übergreifen des Kriegs auf andere Länder zu vermeiden, die deutsche Verteidigungsbereitschaft wieder herstellen sowie eine Außenpolitik zu betreiben, die der neuen Situation gerecht wird. Ein Jahr später zeigt sich, wie weitreichend die Zeitenwende ist und welche Bereiche sie tatsächlich berührt. Sechs Punkte.

 

1. Geopolitik

Schon vor dem Einmarsch der Russen wuchsen die Befürchtungen, dass mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs ein neuer Konflikt von Großmächten in zwei Blöcken droht. Gespannt blickte man nach Beginn der Aggression also auf China. Es bestätigte sich: Das Reich der Mitte positioniert sich konsequent als Gegenpol zum Westen. Vor diesem Hintergrund kann auch der Konflikt Chinas mit Taiwan nicht mehr ignoriert werden.

In der Wirtschaft macht der Begriff vom "Decoupling" die Runde: Die Wirtschaftsräume Chinas und des Westens koppeln sich zunehmend voneinander ab. Handel durch Wandel, das war einmal. Unterdessen testet China auch politisch die Entschlossenheit der USA. Der Einfluss des aufsteigenden Riesen wächst schnell. Somit laufen auch viele Sanktionen gegen Russland ins Leere. Noch schlimmer: Neue Gasleitungen werden jetzt nach China verlegt. Die Weltpolitik, so viel ist sicher, ist in eine neue Phase eingetreten.


Mehr zum Thema

Stimme+
Meinung
Lesezeichen setzen

Jahr der Zeitenwende


 

2. Energie

Der Krieg hat die energiepolitische Abhängigkeit Deutschlands von Russland offengelegt. Die Folgen sind trotz Preisbremsen für jedermann spürbar. Energie wurde teuer, klimapolitische Ambitionen haben einen herben Dämpfer erlitten. In Rekordtempo hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) dafür gesorgt, dass weniger russisches Gas, dafür aber mehr Kohle und LNG verbrannt werden. Denn an eine Stromversorgung nur mit Wind und Sonne ist in Deutschland mittelfristig nicht zu denken.

Erdgas sollte die oft beschworene Brückentechnologie sein, bis die Energieversorgung mit den Erneuerbaren läuft. Ein Jahr später ist klar, dass das ein Fehler war. Gerade deshalb könnte die Energiepolitik aber nach dem ersten Schock nun wirklich neu ausgerichtet werden. Ob es hier die erhoffte Zeitenwende gibt, bleibt abzuwarten.


Mehr zum Thema

ARCHIV - 13.06.2016, Bayern, Würzburg: ILLUSTRATION - Gestelltes Bild zum Thema Gaspreise - Hinter Euro-Noten brennt an einem Herd eine Gasflamme. Nach fünf Jahren Entspannung steigen die Gaspreise wieder an. (zu dpa «Gaspreise steigen nach langer Pause auf breiter Front» vom 23.11.2018) Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Stimme+
Meinung
Lesezeichen setzen

"Doppel-Wumms": Sorgen los oder sorglos?


 

3. Europäische Einheit

Der gemeinsame Gegner hat die Europäische Union in Teilen wieder zusammengeschweißt. Doch dafür den Begriff Zeitenwende zu verwenden, scheint verfrüht. Der Nationalismus ist in vielen Ländern auf dem Vormarsch, das Vertrauen unter den Verbündeten ist noch immer begrenzt. Das ist zu sehen bei den Entscheidungen zu den lange geforderten Leopard-Lieferungen und ebenso bei der in Teilen schleppenden Abkehr von russischer Energie.

Länder wie Österreich oder Italien beziehen weiterhin Erdgas aus Russland, Spanien sogar mehr als vor dem Krieg. Erneut erpresste das EU-Problemkind Ungarn die übrigen Mitgliedsstaaten, indem es den Ukraine-Hilfen anfangs nicht zustimmen wollte. Wenn es ums Geld geht, ist es mit der Solidarität in Europa schnell vorbei. Der nächste Lackmustest wird die Aufnahme der Ukraine sein.

 

4. Finanzpolitik

Hilfspakete und Sondervermögen in dreistelliger Milliardenhöhe waren bis 2022 unvorstellbar. Spätestens mit dem "Doppelwumms" haben sich die Maßstäbe verschoben. Der Finanzbedarf steigt aber weiter schnell an: Bei Bildung, Sozialausgaben, Infrastruktur, Digitalisierung. Die Aufgaben sind riesig, weil zugleich die industrie- und exportorientierte deutsche Wirtschaft an die Grenzen des Wachstums geraten ist und sich in einer grundlegenden Transformation befindet.

Ob neue Geschäftsmodelle so profitabel sein werden wie jene der Vergangenheit, ist nicht abzusehen. Aber es drängt sich die Frage auf, wofür die Milliarden in den vergangenen Jahrzehnten ausgegeben wurden, als die Wirtschaft brummte und zugleich so viele Bereiche kaputtgespart wurden. Die Herausforderung für die öffentlichen Haushalte ist riesig.

 

5. Migration

Deutschland hat die Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen aufgenommen. 1,1 Millionen sind gekommen, für viele ist an eine Rückkehr vorerst nicht zu denken. All das klappt, weil Freiwillige ihre Wohnungen geteilt und Hilfe angeboten haben. Die Behörden in Bund und Land waren, wie schon 2015, häufig überfordert. Lange wussten sie nicht genau, wie viele Ukrainer im Land sind und wer zurückgegangen oder weitergezogen ist.

Es fehlte ein Plan: Brauchen die Kinder einen Kita- oder Schulplatz? Denn anders als Syrer oder Afghanen dürfen sich Ukrainer frei in Deutschland und Europa bewegen. Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik fehlt. Die Bereitschaft im europäischen Süden ist gering, den Polen, Tschechen und Deutschen unter die Arme zu greifen, nachdem Italien und Griechenland jahrelang alleine gelassen wurden. Das Motto lautet weiterhin: Es geht irgendwie, wenn es muss. Eine Zeitenwende sähe anders aus.


Mehr zum Thema

Beim sogenannten «Prebunking» geht es darum, Menschen für Fehlinformationen zu sensibilisieren - zum Beispiel über Flüchtlinge aus der Ukraine.
Stimme+
Lesezeichen setzen

Ein Jahr Ukraine-Krieg: 7315 Geflüchtete in der Region


 

6. Verteidigung

Von den 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr wurde noch fast nichts eingesetzt. Es gab keine Aufträge für neue Panzer, keine Vorgaben an die Unternehmen, Produktionskapazitäten zu schaffen. "Verschwindend gering" sei der Bestelleingang, beklagte die Industrie vor wenigen Tagen. Einzig 35 der Tarnkappenjets F35 wurden in den USA bestellt. Während sich also Russland konsequent in Richtung Kriegswirtschaft bewegt, Munition und Waffenproduktion hochfährt, leeren sich in Europa die Lager und die Industrie wartet ab.

Für die Bundeswehr wächst damit das Risiko, mit seinen Bestellungen am Ende einer langen Liste zu landen. Derweil ist die Vorstellung, dass andere für die eigene Sicherheit sorgen, passé. Deutschland muss sich damit auseinandersetzen, wie viel militärische Stärke notwendig ist, um dem eigenen Standpunkt Gewicht zu verleihen. Außenpolitisch bedeutet das tatsächlich eine Zeitenwende.


Mehr zum Thema

Deutschland gibt zwar mehr Geld für Rüstungsgüter aus, verfehlt die selbstgesteckten Ziele aber wohl doch deutlich.
Foto: dpa
Stimme+
Zustand der Bundeswehr
Lesezeichen setzen

Fehlende Munition, unzureichende Ausrüstung: Kritikpunkte am Zustand der Bundeswehr im Überblick


  Nach oben