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Bürgerinitiativen sind ein Mittelstandsprojekt

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Leben wir im Zeitalter der Bürgerinitiativen (BIs)? Welcher Typ Mensch engagiert sich dort? Und wie kann die Bürgerbeteiligung der Zukunft aussehen? Im Stimme-Interview nimmt Politik-Professor Dr. Hans J. Lietzmann unter anderem zu diesen Fragen Stellung.

von Christian Nick
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Professor Hans J. Lietzmann. Foto: privat
Professor Hans J. Lietzmann. Foto: privat

Prof. Dr. Hans J. Lietzmann ist einer der ausgewiesenen Experten in Deutschland zum Thema und leitet das Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Uni Wuppertal.

 

Herr Prof. Lietzmann, seit über 20 Jahren beschäftigen Sie sich wissenschaftlich mit dem Thema Bürgerbeteiligung und beraten in dieser Funktion auch Bürgerinitiativen. Was ist die häufigste Frage, die von dort an Sie herangetragen wird?

Hans J. Lietzmann: Zunächst muss man sagen, dass die Bürgerinitiativen sich sehr gewandelt haben: Bis vor zehn Jahren etwa waren BIs in erster Linie ein Aufbegehren kleiner Minderheiten gegen die Mehrheitsgesellschaft. Das gibt es immer noch. Aber heute handelt es sich oft um privilegierte Gruppen, die ihre Interessen gegen den Mainstream und die allgemeine Politik verteidigen wollen – und das sehr engagiert, vernetzt und digital versuchen. Ihre zentrale Frage ist: Wie müssen wir vorgehen, dass unser Interesse in der Allgemeinheit wahrgenommen wird? Wie bekommen wir den Fuß in die Tür bei einem politischen Prozess, der womöglich bereits als entschieden gilt?

 

Und welchen Rat können Sie dann kraft Ihrer Erfahrung geben?

Lietzmann: Dass es wichtig ist, das eigene Interesse so zu formulieren und zu verstehen, dass es ein allgemeines Interesse sein kann. Und es somit als allgemeines Interesse in die Diskussion einzuführen. Wir helfen dann bei der Wahl der geeigneten organisatorischen Formate.


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Oft wird geurteilt, Bürgerinitiativen seien primär Verhinderungsallianzen, die nach dem Sankt-Florians-Prinzip aus Gründen persönlicher Betroffenheit handeln. Welche Rolle spielen BIs denn tatsächlich für eine funktionierende und lebhafte Demokratie?

Lietzmann: Sie sind ein Hinweis auf Interessen, die sich nicht gesehen fühlen. Natürlich gibt es einen starken Mainstream in unserer Gesellschaft. Da ist es wichtig, dass diejenigen, die sich nicht gesehen fühlen, ein Megafon verschafft bekommen und hörbar und sichtbar werden. Im Laufe des Prozesses muss sich dann herausstellen, ob tatsächlich ein allgemeines Interesse formuliert wurde oder ob man sagt: Das ist doch zu sehr Sankt-Florian.

 

Kaum mehr ein größeres Infrastruktur-Projekt, ohne dass sich Widerstand formiert: Wir leben im Zeitalter der Bürgerinitiativen – oder täuscht der Eindruck?

Lietzmann: Wenn man es über einen Zeitraum von zwei- oder dreihundert Jahren betrachtet: Es mischen sich immer mehr Menschen in den politischen Entscheidungsprozess ein. Weil auch immer mehr Menschen in der Lage dazu sind. Heute sind 60 Prozent einer Generation an den Hochschulen. Die können sich alle in relativ kurzer Zeit in ein Thema einarbeiten und wissen, wie man einen Einspruch formuliert. Dieser Bildungszuwachs ist ein Fortschritt in der Gesellschaft, der gut ist.


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Wie viele Bürgerinitiativen gibt es denn aktuell in Deutschland? Haben Sie Zahlen?

Lietzmann: Dazu nicht. Aber wir haben hier am Institut eine Datenbank zu Volksbegehren und Bürgerbegehren – die nehmen von Jahr zu Jahr um ca. 10 Prozent zu. Da ist Dynamik drin. Wir machen ja viele Bürgerbeteiligungsverfahren für Kommunen oder Regierungen. Da gibt es eine unglaubliche Nachfrage: Die Menschen wollen mitbestimmen und können es auch.

 

Stuttgart 21 hat den Begriff des „Wutbürgers“ in den öffentlichen Sprachschatz befördert. Können Sie mit dem Wort etwas anfangen?

Lietzmann: Naja, ich kann mir schon etwas drunter vorstellen. Aber Stuttgart 21 ist ein Beispiel, wo man versucht hat, Bürgerbeteiligung zu verhindern – und das ist dann eben nach hinten losgegangen: Das Konzept zum Umbau des Bahnhofs konnte nur innerhalb von sechs Wochen juristisch angegriffen werden. So etwas kann nur schiefgehen.

 

Ist die Bezeichnung „Wutbürger“ dann so eine Art Framing gewesen, um die Protestierenden zu diskreditieren?

Lietzmann: In gewisser Weise schon: Der Gegenbegriff zum klugen, rationalen Fachmann. Was absurd ist, denn in Stuttgart waren Ingenieure überproportional unter den Demonstrierenden vertreten.

 

Welcher Typ Mensch engagiert sich typischerweise in einer Bürgerinitiative?

Lietzmann: Es sind schon die Ressourcen-starken. Um das Wort Besserverdienende zu vermeiden. Wir sagen immer: BIs sind ein „Mittelstandsprojekt“. Es sind diejenigen, die sich zutrauen, Einspruch zu erheben. Gruppen, die sich in ihrem ganzen Leben nicht beachtet oder sozial zurückgesetzt fühlen, gründen eher keine BI.


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Was sind die Voraussetzungen? 

Lietzmann: Man muss es sich argumentativ und rhetorisch zutrauen. Man muss Zeit zur Verfügung haben: Wenn Sie acht Stunden im Supermarkt an der Kasse saßen, haben Sie eher keine Lust mehr, abends noch vier Stunden in der BI zu verbringen. Und: Man muss gut vernetzt sein: Wenn ich noch zwei, drei Kontakte in Vereine, in den Rotary-Club oder zur Presse habe, ist es natürlich leichter, eine BI zu gründen und Spenden zu sammeln.

 

Welche Rolle spielt denn das Gefühl „Wir gegen die da oben“?

Lietzmann: Ich glaube, das hauptsächliche Gefühl ist „Wir gegen die Anderen“. Also mehr vertikal.  BIs sind primär Selbstbehauptung: das eigene Interesse stark machen.

 

In welchen Politikfeldern sind denn BIs vor allem aktiv?

Lietzmann: Verkehrspolitik, Stadtplanung, Energie- und Umweltpolitik. Also gerade in Bereichen, die aktuell gesellschaftlich hoch strittig sind und wo große Interessen gegeneinanderstehen: etwa Umweltinteressen gegen Wirtschaftsinteressen.

 

Verhindern BIs nicht gerade, dass das Notwendige getan wird: etwa beim Ausbau der Windkraft?

Lietzmann: Es gibt beides. Es gibt durchaus auch BIs, die sich für Windenergie, Solardächer, Verkehrsberuhigung oder CO2-Reduzierung engagieren. Aber das ist regional sehr unterschiedlich.


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Ist die Vielzahl von BIs aus Ihrer Sicht ein Indikator, dass es an institutionellen Angeboten für Bürgerbeteiligung mangelt? Was könnte getan werden für mehr Partizipation der Menschen? Es werden ja viele Optionen diskutiert: ausgeloste Bürgerräte, gewählte Bürgerparlamente und auch Volksentscheide: Was hielten Sie für ein probates Mittel?

Lietzmann: Für uns ist Mittel der Wahl etwas, was wir am Institut regelmäßig organisieren: geloste Bürgerräte in unterschiedlichen Formationen und auf allen Ebenen. Das geht in der Kommune, der Region – etwa beim Braunkohle-Abbau – und wir haben nun auch bundesweit ein solches Verfahren mit durchgeführt.

 

Wie funktioniert das konkret?

Lietzmann: Wir schreiben zufällig ausgewählte Bürger an und teilen mit, dass sie die Möglichkeit haben, sich an der Diskussion eines umstrittenen Projekts zu beteiligen. Wir bieten dafür Fahrdienste, Betreuungsmöglichkeiten, Dolmetscher und so weiter, um zu garantieren, dass wir die Menschen auch tatsächlich an diesen Runden Tisch bekommen. So kriegen wir eine Zusammensetzung zustande, die viel repräsentativer ist als die Menschen, die in Deutschland üblicherweise zur Wahl gehen. Diejenigen, die schon nicht mehr zur Urne gehen, kommen doch zu diesen Runden, fühlen sich angesprochen und sind hoch interessiert, dort über Politik zu diskutieren. So ein Verfahren schafft eine große Allgemeinheit – und es ist der Gegenpol zu einer Bürgerinitiative, die ja doch immer ein spezifisches Interesse vertritt. Dieses kann dann aber sehr gut im Rahmen solcher Bürgerräte diskutiert werden.

 

Welchen Einfluss hat ein solches, von Ihnen initiiertes, Verfahren dann tatsächlich auf die Entscheidungsfindung?

Lietzmann: In jedem Fall steht am Ende ein rund 80-seitiges Gutachten über Verlauf und Ergebnisse des Bürgerrats. Und das steht als stabiler politischer Machtfaktor im Raum. Jeder Kommunalpolitiker, der das dann nicht wahrnehmen will, muss sich schon anstrengen, gute Argumente dafür zu finden. In der Praxis ist es so, dass entweder das Votum des Bürgerrats umgesetzt wird oder dieses dann als Grundlage für einen Bürgerentscheid dient. Wir haben es erst einmal erlebt, dass eine Kommune das Ergebnis inakzeptabel fand.  Da ging es um ein Gewerbegebiet in Weinheim, also ganz nah bei Ihnen. Daraufhin wurde aus der Bevölkerung heraus ein Bürgerentscheid initiiert, um gegen den Gemeinderat das Anliegen durchzusetzen. Am Ende haben die Bürger dann knapp für die Position des Gemeinderates gestimmt.

 

Zur Person: 

Prof. Dr. Hans J. Lietzmann ist 68 Jahre alt und leitet seit 2007 das Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung sowie die Forschungsstelle Bürgerbeteiligung an der Universität Wuppertal. Nach dem Abitur 1972 in Düsseldorf studierte Lietzmann Politikwissenschaft, Jura, Soziologie und Philosophie in Frankfurt, Marburg und Giessen. In den 90er-Jahren promovierte er in Soziologie und wurde 1998 in Politikwissenschaft habilitiert. Seit 2002 ist er Politik-Professor an der Uni Wuppertal und unter anderem Wissenschaftlicher Direktor des „Institute for European Citizenship Politics - Bürgerschaftliche Politik in Europa“.

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