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30 Jahre Einheit: Anpassungsleistung wird oft nicht gesehen

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Sechs Jahre alt ist Helen Schilpp, als die Mauer fällt. Ein kleines Kind, maßlos enttäuscht, dass es kein Pionierhalstuch mehr zur Einschulung gibt - aber dafür schon einen "Westranzen". Ärztin Helen Schilpp erzählt über ihre ostdeutschen Wurzeln, das Glück über den Mauerfall, und auch über ein wenig Wehmut.

Helen Schilpp hat ihr Zuhause in Heilbronn gefunden. Schade findet sie, dass zu häufig die Probleme in den neuen Bundesländern im Fokus seien und nicht das Positive.
Foto: Christiana Kunz
Helen Schilpp hat ihr Zuhause in Heilbronn gefunden. Schade findet sie, dass zu häufig die Probleme in den neuen Bundesländern im Fokus seien und nicht das Positive. Foto: Christiana Kunz  Foto: Kunz, Christiana

"Ich bin selbst überrascht, wie stark mich die Bilder vom Mauerfall immer wieder bewegen. Heute noch", sagt die 36-Jährige. "Dann denke ich: Was für ein Glück. Ich bin total dankbar. Wie anders hätte mein Leben ausgesehen, wenn die zwei Deutschlands weiter existiert hätten." Wobei, Wiedervereinigung, ist es das wirklich gewesen? Nicht eher das Übernehmen westlicher Regeln, Werte und Statussymbole? "Beitritt zur BRD", trifft es besser, findet sie.

Die Währungsunion erlebt die Familie auf Rügen

An Mangel kann sie sich nicht erinnern. Der Familie ging es gut, sie lebte in einer schönen Wohnung, fuhr Wartburg. Dass der Vater über den Fall der Mauer völlig fassungslos war, daran erinnert sich die Wahl-Heilbronnerin. Und an die Währungsunion, die die Familie während ihres Urlaubs auf Rügen erlebt hat, und wo die Ostbürger 30 Mark pro Person bekamen. Dass alles so bunt war in den Schaufenstern, plötzlich. "Und mein Bruder ein Wasserspielzeug bekommen hat, einen Taucher, der mit den Flossen paddeln konnte. Wir waren die Stars am Strand."

Das Land ihrer Eltern gibt es so nicht mehr

Trotzdem. Manchmal mischt sich in die Dankbarkeit ein wenig Wehmut. "Dass es das Land, das meine Eltern und Großeltern geprägt hat, so nicht mehr gibt." Sie lächelt. "Wie bei einem Scheidungskind, das sich mit 60 noch wünscht, die Eltern wären wieder zusammen." Der Verstand sagt, es war gut, das Gefühl, etwas verloren zu haben, bleibt.

Sie fühlt sich verbunden mit Heilbronn, mit der Buga, hat die Stadt ins Herz geschlossen. Aber: "Heilbronn ist mein Zuhause und die Heimat meines Mannes und meiner Kinder. Dass es je meine wird, glaube ich nicht. Dafür bin ich zu sehr Neigschmeckte."

Vorbehalte spürte sie vor allem bei Älteren

Zehn Jahre lang bleibt die Familie nach dem Mauerfall in der Lausitz wohnen, der Vater pendelt berufsbedingt in den Westen und ist begeistert. Als sie 16 Jahre ist, ziehen alle nach Leingarten. "Vorbehalte habe ich vor allem bei Älteren gespürt", sagt Helen Schilpp. "Du kommst aus dem Osten? Merkt man ja gar nicht", hieß es dann.

"Man muss sächseln, demokratie-skeptisch und ein bisschen blöd sein", fasst sie die Vorurteile zusammen. Wobei eine gewisse Direktheit schon eine ostdeutsche Spezialität sein könnte, überlegt sie. "Manchmal haue ich auch was raus, was nicht so diplomatisch ist."

Im Osten war es normal, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen studieren

Unterschiede stellt die damals 16-Jährige an der Schule fest. "Die Durchlässigkeit des Bildungssystems war bei uns anders. Es war normal, dass Kinder aus einfachen Verhältnissen das Gymnasium besuchen und studieren." In Sachsen wurde Wert aufs Werken gelegt: aufs Nähen mit der Nähmaschine, Metall bohren, Sägen.

Selbst ihre Berufswahl hat mit der Wende zu tun. "Ich wollte Medizin studieren, weil ich damit in jedem Gesellschaftssystem etwas anfangen kann. Weil ich erlebt habe, dass die Berufsabschlüsse meiner Eltern plötzlich fast nichts mehr wert waren." Trotzdem habe sie an deren Beispiel gelernt, dass "es immer irgendwie weitergeht".

Jetzt entdecken die Leute den Osten

Diese große Anpassungsleistung werde oft gar nicht gesehen. "Wie sich ein ganzes Volk auf eine neue Welt eingestellt hat." Was sie stört, ist der problemfixierte Blick auf den Osten - und das Desinteresse. Dabei werde manche Idee, die im Osten gelebt wurde, jetzt auch hier entdeckt. Nachmittagsbetreuung an Schulen. Oder Ärzte in medizinischen Versorgungszentren auf dem Land anzustellen. Und: "Es ist ein netter Nebeneffekt von Corona, dass die Leute den Osten entdecken, nach Leipzig und Dresden reisen. Die Welt ist da hinten nicht zu Ende."

Zur Person 

Helen Schilpp stammt aus der Lausitz, ist 36 Jahre alt, verheiratet, und hat zwei Kinder im Vorschulalter. Die Ärztin, die in Heidelberg studiert hat, arbeitet als Kinder- und Jugendpsychiaterin in der Tagesklinik Heilbronn. Ehrenamtlich organisiert sie als zweite Vorstandsvorsitzende den „Laubfrosch Waldkindergarten“ auf der Heilbronner Waldheide mit. Heimat hat für sie auch viel mit Sprache zu tun. Mit einem Land, in dem die Schultüte Zuckertüte heißt und sie anfängt zu sächseln oder schnodderig brandenburgisch zu reden. 

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