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Wie kommen die Zahlen in die Corona-Verordnungen?

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Erst Einschränkungen, dann Lockerungen: In der Corona-Krise muss die Politik oft sehr schnell Entscheidungen treffen und mitunter Schnellschüsse in Corona-Verordnungen korrigieren. Was genau im Hintergrund passiert, erklärt der baden-württembergische Regierungssprecher Rudi Hoogvliet.

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Die Corona-Krise musste auch die Landesregierung viel schneller Entscheidungen treffen als das gewöhnlich in demokratischen Entscheidungsprozessen der Fall ist. Foto: dpa
Die Corona-Krise musste auch die Landesregierung viel schneller Entscheidungen treffen als das gewöhnlich in demokratischen Entscheidungsprozessen der Fall ist. Foto: dpa  Foto: Jana Hoeffner (Staatsministerium Baden-Württemb)

Demokratische Entscheidungsprozesse dauern gemeinhin lange. Als sich das Coronavirus Anfang März in ganz Deutschland ausbreitete, waren aber rasche Maßnahmen gefragt. Was sonst wochen- und monatelang verhandelt wird, musste nun von einem Tag auf dem anderen entschieden und umgesetzt werden.

"Die Situation war für uns alle neu", erinnert sich der baden-württembergische Regierungssprecher Rudi Hoogvliet. Im Stimme.de-Interview sagt der 61-Jährige, wie in der Lenkungsgruppe gerarbeitet wurde, warum Fehler unvermeidbar waren und wieso ein solches Gremium nur ein begrenztes Existenzrecht besitzt.

 

Herr Hoogvliet, ausgerechnet an einem Freitag, den 13. fand im März die erste Sitzung der tags zuvor eingerichteten Lenkungsgruppe statt. Erinnern Sie sich noch, ob Ihnen da schon bewusst war, dass hier fortan eine neue Zeit organisiert werden muss?

Rudi Hoogvliet: Zu dem Zeitpunkt war die Schwelle erreicht, an der klar wurde, dass unser gesellschaftliches Leben auf den Kopf gestellt wird. Für die besondere Situation mussten besondere Maßnahmen ergriffen werden. Bereits 2015 hatten wir wegen der Flüchtlingssituation in den Ministerien Stabsstellen eingerichtet, die sich bewährt hatten und auf die wir nun zurückgreifen konnten.

 

Rudi Hoogvliet,  Sprecher der Landesregierung Baden-Württemberg. Foto: Imago
Rudi Hoogvliet, Sprecher der Landesregierung Baden-Württemberg. Foto: Imago  Foto: Robert B. Fishman via www.imago-images.de (www.imago-images.de)

Wie lässt sich die Aufgabe der Lenkungsgruppe beschreiben?

Hoogvliet: Sie ist ein schnelles Entscheidungsorgan der Exekutive, das gerade zu Beginn sogar anstelle des Kabinetts Beschlüsse gefasst, ansonsten aber die Richtlinien der Regierung konkretisiert hat. Noch wenige Tage vor Einrichtung der Lenkungsgruppe herrschte selbst im Kultusministerium, im Staatsministerium und bei den Landtagsfraktionen Kopfschütteln, als der Philologenverband landesweite Schulschließungen forderte. Am 17. März waren sie bereits Realität.

 

Wie muss man sich die Atmosphäre in der Runde vorstellen? Geht es da turbulent zu oder schwäbisch gelassen?

Hoogvliet: Weder noch. Die Situation war für uns alle zwar neu, aber es wurde von Anfang an sehr konzentriert und konstruktiv gearbeitet. Gerade in den ersten Tagen mussten ja Grundsatzentscheidungen getroffen werden wie etwa die Schulschließungen. Es musste natürlich auch viel improvisiert werden, beispielsweise bei der Beschaffung von ausreichend Atemschutzmasken und Schutzkleidung.

 

Sie haben schon erwähnt, dass oft schnell entschieden werden musste. Kamen dadurch auch Schnellschüsse zu Stande?

Hoogvliet: Wir mussten tatsächlich schnell arbeiten und entscheiden. Um zu verhindern, dass sich das Virus exponentiell ausbreitet, mussten Verordnungen innerhalb von wenigen Tagen erlassen werden, deren Abstimmung sonst Wochen oder gar Monate dauert. Dadurch entstehen zwangsläufig Fehler und Unzulänglichkeiten. Angesichts des Drucks und der Geschwindigkeit, in der gearbeitet werden musste, ist da aber erstaunlich wenig schiefgelaufen. In einigen Fällen musste eben nachkorrigiert werden.

 

Zur Person

Der gebürtige Holländer Rudi Hoogvliet gilt als einer der engsten Vertrauten von Ministerpräsident Wilfried Kretschmann. 1982 war der 61-Jährige der Liebe wegen von Utrecht nach Stuttgart gezogen. Über sein Engagement in der Friedensbewegung fand er zu den Grünen. Lange war er die rechte Hand des heutigen Stuttgarter Oberbürgermeisters Fritz Kuhn. In den Jahren 2002, 2005 und 2009 organisierte er den Bundestagswahlkampf der Grünen.

 

In der Lenkungsgruppe sitzen Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen Ressorts. Wird da wirklich offen diskutiert, oder letztlich die Vorschläge des jeweiligen Experten auf ihrem Gebiet einfach abgenickt?

Hoogvliet: Wenn es um Fragen geht, wie viele Menschen an einer Trauerfeier teilnehmen oder auf einem Fußballplatz trainieren dürfen, dann ist die Auffassung des zuständigen Ressorts schon maßgeblich. Natürlich kommen aus der Gruppe aber kritische Nachfragen oder eigene Vorschläge. Das dient der Konsensfindung und führt letztlich zu einer evidenteren Verordnung.

 

Die nun eben nicht mehr wie zu Beginn der Coronakrise täglich überarbeitet und verändert werden muss?

Hoogvliet: Nein, die steht jetzt in ihren Grundsätzen. Daher tagt die Lenkungsgruppe in den Sommermonaten auch nur noch auf Zuruf. 13 Mal ist die Verordnung aktualisiert worden. Jetzt ist sie gründlich überarbeitet worden und enthält nur noch wenige Unterverordnungen. Das dient der Übersicht und der Verständlichkeit.

 

Würden Sie sagen, dass solche ressortübergreifenden Gremien zeigen, dass die repräsentative Demokratie in Krisenzeiten schnell und umsichtig agieren kann?

Hoogvliet: Absolut. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Preis dafür war, dass das Parlament ein Stück weit ausgehebelt worden ist. Das darf in einer Demokratie nur in absoluten Ausnahmefällen und zeitlich eng beschränkt geschehen. Der Landtag hat das gewährt, dann aber auch gefordert, wieder stärker einbezogen zu werden. Das ist inzwischen geschehen.

 

Wo liegen aktuell die Arbeitsschwerpunkte?

Hoogvliet: Der Schwerpunkt liegt nun auf der Vorbereitung für eine mögliche zweite Welle. Dazu ist eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet worden, die entsprechende Vorschläge erarbeitet.

 

Droht ein Szenario wie zu Beginn der Krise?

Hoogvliet: Ich denke nicht. Wir sind besser ausgestattet, haben im Umgang mit dem Virus Erfahrungen gesammelt und Erkenntnisse gewonnen. Durch die strikten Richtlinien sind wir zudem in der Lage Ausbrüche zu lokalisieren, zu isolieren und Kontaktpersonen nachzuverfolgen. Daher hoffe ich, dass wir großflächige Ausbreitungen verhindern können. 

 

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Info Lenkungsgruppe

Leiter der Lenkungsgruppe ist Staatssekretär Florian Stegmann, der Chef der Staatskanzlei. Mitglieder der Lenkungsgruppe sind die Amtschefs des Sozialministeriums, Innenministeriums, Finanzministeriums, Kultusministeriums sowie regelmäßig Wirtschaftsministerium und Verkehrsministerium. Als ständige Berater nehmen das Landesgesundheitsamt (LGA), der Geschäftsführer des Interministeriellen Verwaltungsstabs und der Sprecher der Landesregierung an den Sitzungen teil.

Bei Themen, die andere Ministerien betreffen, zieht die Lenkungsgruppe die jeweiligen Amtschefs hinzu. Nach jeder Sitzung gab eine weitere Versammlung mit den kommunalen Spitzenverbänden, um die Entscheidungsträger vor Ort sofort mit einzubeziehen. Die aktuelle Coronaverordnung gilt bis zum 30. September 2020.

 

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