Nachtspaziergang durch Flein
Ein unvertrauter Spaziergang durch den (eigentlich) so vertrauten Heimatort Flein

Das stellt man sich so leicht vor. Nachtspaziergang. Um 2 Uhr. Durchs heimatliche Flein. Kein Problem! Und dann steht man da. Kurz vor 2 Uhr, mit leichtem Magenkribbeln. So vertraut mir die Gemeinde seit 24 Jahren, die ich hier lebe, ist, so unvertraut ist es, mitten in der Nacht in der verlassenen Heilbronner Straße zu stehen. Dieser Hauptachse durch den Ort, passiert von tausenden Fahrzeugen und hunderten Menschen täglich. Es dauert einen Moment länger, als ich gedacht hätte, in diesem neuen Bild anzukommen, und ich frage mich, warum? Sicherer Ort, tiefvertraute Umgebung - wieso kann ich nicht völlig unbedarft losgehen?
Ohne Listen im Kopf

Nach ein paar Metern spüre ich eine Antwort. Wer nachts durch seinen Heimatort läuft, der hat keine Einkaufsliste im Kopf. Keinen Arzttermin. Keinen Abstecher zur Bank, ehe es zum Kindergarten und danach auf den Spielplatz geht. Der ist nicht auf Parkplatzsuche oder hängt beim Warten an der Bushaltestelle am Smartphone. Wer nachts durch seinen Heimatort läuft, tut nur das: Er läuft durch seinen Heimatort. Das hinterlässt erst einmal eine seltsame Leere. So leer wie der Ort.
Automatisch übernehmen so die Sinne das Kommando. Die Ohren sensibilisiert, die Augen fokussiert, nichts, das ablenkt. Ein Bild gleich einem leergefegten Wimmelbuch. Ich laufe weiter in Richtung Kreisverkehr am Rathaus, nur wenige Schaufenster sind beleuchtet. Ich gehe über die Straße. Niemand kommt, aber der Kopf dreht sich automatisch nach links und rechts.
Duft nach Sommerregen

Eine Stunde zuvor ist ein Gewitter über den Himmel gezogen, der Boden ist nass, die Luft warm. Beim Laufen steigt mir der typische, wunderschöne Geruch nach Sommerregen in die Nase. So bewusst wahrgenommen wie das Rascheln der Blätter im Wind in den Bäumen an der Bushaltestelle.
Auch sonst gilt: Man sieht wenig und doch viel mehr als sonst. Wie friedlich es hier ist zum Beispiel, und wie wertvoll das ist. Wie gepflegt. Wie ein paar Meter weiter der Brunnen vorm Rathaus plätschert, gleichmäßig und beständig. Nein, ich höre ihn sonst nicht, genauso wenig wie ich im Alltag vor der Bronzeskulptur "Die Claque" stehenbleibe.
Vertraute Dinge wiederum fehlen: Die Gäste vor Haudis Kneipentür. Die immer liebevoll arrangierte Blumenpracht vor Lisbeths Laden. Das Tür auf, Tür zu in den Läden.
Die Erinnerungen kommen
Und vielleicht gerade weil dieses Wimmelbild nun so leer ist, füllt es sich mit Erinnerungen. Auf dem Rathausplatz sind es viele. An das jüngste Weinfest, bei dem Anfang Juli fröhlich-ausgelassen gefeiert wurde. An den Weihnachtsbaumverkauf im Dezember. Jedes Jahr holen wir dort bei Familie Schif unsere Tanne. An die Haigern-Freizeit-Busse, die hier stoppen und Rudel dreckig-glücklicher Kinder auskippen. Bald ist es wieder so weit. Auch ich stehe dann wieder hier. Genau hier. Wo jetzt alles schläft.
Als ich weitergehe, die breite Treppe hoch in Richtung Sankt Veit-Kirche und Friedhof, werden Dunkelheit und Stille noch dunkler und stiller. Doch beides fühlt sich nicht mehr seltsam an. Als hätte ich mit meinem Flein einen neuen Wohlfühlpakt geschlossen. Riechen, gucken, Hauseingänge wahrnehmen. Blumengärten. Was hell blüht, strahlt auch nachts.
Oben angekommen, gehe ich nicht in den Friedhof hinein. Nicht wegen Angst. Friedhöfe sind für mich ein friedvoller Ort. Es ist Respekt vor der tiefen Ruhe, die hier herrscht. Es braucht keinen Eindringling. Also stehe ich am Rande - und schaue. Die Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Sehen Silhouetten, Grabsteine, die Kirche. Auch hier: Das Rauschen der Blätter im Ohr. So geht der Blick auch nach oben. Erst in die Bäume, schließlich in den Himmel. Und nein: Da sind keine Sterne. Das Gewitter ... Aber es ist nicht schlimm, es geht nicht um romantisierte Bilder. Nur darum, einmal anderswo hinzusehen als stur geradeaus. Im tatsächlichen wie übertragenen Wortsinn.
Als liefe die Zeit nachts schneller
Da läuten die Glocken. Es ist drei Uhr geworden. Läuft die Zeit nachts schneller? Es fühlt sich an, als würde dieser Spaziergang erst viel kürzer dauern. Vielleicht wegen der vielen, dieser anderen Eindrücke und Gedanken.
Über die Kühäckerstraße geht es vorbei am Edeka, durch die Erlachstraße zum Hofwiesenkindergarten. An ihn grenzen der Spiel- und der Bolzplatz. Leben - das ist, was sonst herrscht, wenn hier Scharen von Kindern toben, klettern, schaukeln, kicken, lachen, streiten, weinen, picknicken.
Ein leeres Wimmel-Flein und doch reich gefüllt. So spät es auch ist, selten bin ich so wach durch mein Zuhause gelaufen.
Hintergrund Mikroabenteuer
Es gibt seit ein paar Jahren den Begriff der Mikroabenteuer. Die Idee sind kleine Auszeiten vor der Haustüre, ein kurzes Raus aus dem Alltag - und wenn es nur ein paar Stunden sind. Vor allem gilt: Raus aus der Komfortzone. Einfach mal etwas ausprobieren, das (natürliche) Leben spüren, bei einer Übernachtung in der Hängematte im Wald, Zeltlager auf dem Balkon, barfuß wandern - oder eben nachts spazieren gehen. Das macht nicht nur Spaß, die Wahrnehmung steigt auch ungemein. ssp