Dr. Volodymyr Kovalchuk (39) ist Orthopäde und Chirurg. Er lehrt als Junior-Professor an der Nationalen Shupyk Universität in Kiew. Kovalchuk wurde in den USA und europäischen Ländern ausgebildet, er spricht fließend Englisch und ein wenig Deutsch und ist Vorsitzender des Internationalen Komitees des ukrainischen Berufsverbands der Chirurgen.
Arzt aus Kiew: „Deutsche Kliniken sollten sich auf Kriegsfall vorbereiten“
Bis zu 60 Prozent Kriegsverletzte in zivilen Krankenhäusern und Ärzte, die als Allrounder gefragt sind: Orthopäde Volodymyr Kovalchuk erklärt, wie sich Medizin in Kriegszeiten verändert hat.

Die Forderungen, einen möglichen Nato-Bündnisfall bei der deutschen Krankenhausreform mitzudenken, werden lauter. Zuletzt hatte der bayerische CSU-Fraktionschef Klaus Holetschek gefordert, sicherheitspolitische Aspekte bei einer Neuordnung der Krankenhauslandschaft in Deutschland einzubeziehen. „Die aktuelle Eskalation im Nahen Osten zwischen Israel und dem Iran zeigt, wie wichtig es ist, medizinische Versorgung als Teil der nationalen Sicherheitsarchitektur zu denken“, sagte Holetschek in München. Ziel müsse sein, die medizinische Versorgung auch im Bündnis- und Katastrophenfall aufrechtzuerhalten.
Während in Deutschland noch theoretisch diskutiert wird, ist der Umgang mit Kriegsverletzten seit drei Jahren Alltag für Volodymyr Kovalchuk. Der Orthopäde und Chirurg von der Shupyk Universität in Kiew ist eigentlich auf komplexe minimal-invasive Operationen, etwa an Füßen oder dem Schultergelenk, spezialisiert. Darauf hatte sich der an renommierten internationalen Universitäten ausgebildete Mediziner vor dem Krieg in seiner Praxis in Kiew spezialisiert. Doch seit dem russischen Überfall auf sein Land widmet sich der 39-Jährige verstärkt der Ausbildung junger Ärzte und er versorgt mit seinen Kollegen Kriegsverletzte - vor allem Soldaten, aber auch Zivilisten. Unsere Redaktion hat mit ihm per Video in Kiew gesprochen.
Wie geht es Ihnen?
Volodymyr Kovalchuk: Die Nacht war heftig, es gab hier in Kiew wieder fünf tote Zivilisten und zahlreiche Verletzte durch russische Angriffe. Viele Einwohner haben kaum geschlafen. Ich hätte nie gedacht, dass in einem modernen Krieg solche Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung begangen werden. Weniger, weil ich an humanitäre Werte bei den Russen glaube, sondern vielmehr, weil man inzwischen alles genau dokumentieren kann. Aber bei den Russen sind offenbar noch die alten KGB-Seilschaften mit ihren Methoden am Werk.
Wie hat sich Ihr Leben seit dem 24. Februar 2022, dem Überfall auf die Ukraine, verändert?
Kovalchuk: Es hat sich dramatisch verändert. Kurz vorher hatte ich Abschied von der Universität genommen, weil ich mich ganz auf meine Praxis konzentrieren wollte, inzwischen bin ich tageweise zurückgekehrt, weil sie mich am Krankenhaus brauchen. An dem zivilen Hospital, das an unsere Universität angeschlossen ist, haben wir formal 80 Betten. 40 bis 60 Prozent davon sind permanent von Kriegsopfern belegt. Bei diesen Patienten geht es häufig um große rekonstruktive Eingriffe, zum Beispiel nach Amputationsverletzungen. Alle großen Krankenhäuser in der Ukraine versorgen Kriegsverletzte. Bei uns Ärzten sind breite chirurgische Kenntnisse gefragt, statt Spezialisierungen auf einzelne Operationen.
Waren Sie vorbereitet auf den Angriff?
Kovalchuk: Ich persönlich habe ein solches Szenario noch am Tag davor für völlig unrealistisch gehalten. Und dann war ich wie die meisten anderen auch erst einmal im Schock, die Unsicherheit war in den ersten Tagen das Schlimmste, auch die Unsicherheit darüber, ob und wie wir unser normales Leben würden weiterführen können. Ich dachte zuerst, ich muss als Arzt vielleicht nur noch Evakuierungen von der Front und unmittelbare Notfallversorgung machen. Aber ich arbeite weiter in meiner Praxis in Kiew, auch wenn sich mein Fokus verschoben hat. Dadurch, dass ich wieder ans Krankenhaus zurückgekehrt bin, habe ich natürlich für die Praxis weniger Zeit.
In Deutschland wird darüber diskutiert, ob und wie sich das Gesundheitssystem auf einen möglichen Kriegsfall auf Nato-Territorium vorbereiten soll. Wie gut kann man sich darauf überhaupt vorbereiten?
Kovalchuk: Vorbereitung ist wichtig und ich bin überzeugt davon, dass Deutschland die Fähigkeiten hat, Vorkehrungen zu treffen. Deutschland ist nach meiner Wahrnehmung immer noch ein sehr gut organisiertes Land mit einem der weltweit besten Gesundheitssysteme, auch wenn es teuer ist und das mit der Digitalisierung noch nicht an allen Stellen funktioniert. Aber das Land hat die finanziellen Ressourcen und ein sehr gutes Ausbildungssystem für Ärzte.
Was braucht es für die Umstellung von ziviler auf militärische Medizin?
Kovalchuk: Es ist verständlich, dass kaum jemand sich gern mit dem Szenario eines Krieges auseinandersetzt, denn das macht Angst. Aber im Notfall braucht es zunächst nicht viel - die Umstellung auf ein gutes Triage-System, um Patienten nach Behandlungsbedarf herausfiltern zu können. Und dann geht alles Schritt für Schritt. Wir konzentrieren uns darauf, was wir tun müssen, um dem Patienten zu helfen und halten uns dabei an die vorgegebenen Prozesse. Jeder Handgriff ist in der Medizin strikt geregelt, das ist fast wie Meditation und gibt Sicherheit.
Sie sind auf vielen Kongressen in westlichen Ländern unterwegs und verfügen über ein gutes Netzwerk mit internationalen Kollegen. Haben sich die Kontakte Richtung Westen durch den Krieg intensiviert?
Kovalchuk: Ich selbst war schon während meiner Ausbildung in vielen europäischen Staaten und den USA. Aber für einige meiner Kollegen aus der Ukraine ist das schon neu. Wir werden zu Kongressen eingeladen, auch, um unseren Kollegen aus Deutschland, Frankreich oder anderen europäischen Ländern von unseren Erfahrungen zu berichten. Die Ärzte wollen sich vorbereiten auf einen möglichen militärischen Ernstfall. Es kommt häufig zu interessanten Austauschen, so haben die Amerikaner ihr Szenario für die Zahl von Kriegsverletzten pro Tag nach dem Austausch mit uns nach oben korrigiert (die Nato geht inzwischen im Bündnisfall von bis zu 1000 Kriegsverletzten pro Tag aus, die auf deutschem Territorium versorgt werden müssten, Anm. d. Red.).
Wann sind Sie das nächste Mal in Deutschland?
Kovalchuk: Wir waren im April in Aachen und haben vor, im Oktober mit einer Delegation beim Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie in Berlin zu sein. Dort werden wir unter anderem über die Kooperation zwischen militärischen und zivilen Krankenhäusern im Kriegsfall sprechen.