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Kindheit in Armut und ein Schuldenberg zum Jobstart in Heilbronn: Der zähe Weg aus der Sozialhilfe

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Ein Betroffener erzählt, wie er trotz aller Widrigkeiten seinen Weg gegangen ist.

"Ich habe nie gedacht, dass ich es nicht schaffe." Das sagt Bernd Seiler, ein Mann, der wirkt wie ein Fels in der Brandung. Keiner, der so schnell nervös wird. Er hat einiges erlebt, er hat vieles überstanden. Manche zerbrechen an so einer Geschichte. Seiler nicht.

Seine Kindheit war überschattet von der Angst vor dem gewalttätigen Vater, einem schweren Alkoholiker. Der zwar einerseits ein begnadeter Musiker ist, sein Gehalt als Postbote mit Musikunterricht aufbessert, Trompete, Geige, Klarinette und Klavier beherrscht wie kein anderer und zusätzlich noch die Stadtkapelle dirigiert. Der aber gleichzeitig eifersüchtig und jähzornig ist wie der Teufel und Dinge sagen kann wie: "Jetzt hol ich mir noch ein Bier im Keller, und dann bring ich euch alle um." Vor dessen Schlägen die Mutter mit den Kindern über den Balkon flüchtet.

Die Familie flüchtet vor dem gewalttätigen Vater in eine neue Wohnung

Als der Bruder 18 ist, stellt er sie vor die Wahl. Er geht jetzt, und entweder sie kommt mit seinen kleinen Geschwistern mit oder nicht. In einer Nacht- und Nebelaktion balanciert er auf dem Fahrrad den kleinen tragbaren Fernseher, den Vogelkäfig und ein paar Gartenmöbel in die neue Wohnung am anderen Ende der Stadt. Es wird für Jahre die einzige spartanische Einrichtung der Familie sein. Statt einer Küche gibt hier nur eine mobile Herdplatte, als Bett dienen ein paar Matratzen auf dem Boden.


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Trotzdem ist die Wohnung ein Glücksfall, sagt Bernd Seiler (Name von der Redaktion geändert) rückblickend. "Sie gehörte zur Neuen Heimat, trotz aller Probleme ein großartiges Sozialprojekt, bei dem es günstigen Wohnraum gab, der nicht versifft war." Was wäre gewesen, wenn schon damals bezahlbarer Wohnraum so knapp gewesen wäre wie heute? Nicht auszudenken. Der Wandel von Sozialhilfe zu Hartz IV sei ein harter Bruch, "weil es Lebensumfelder in Frage stellt, das soziale Gefüge auseinanderfällt, wenn Leute wegziehen müssen, und weil es etwas mit dem Selbstwertgefühl macht".

Freunde mitzubringen ist ein Tabu

Klar, Freunde mitzubringen ist für ihn damals ein Tabu. "Dann hätte jemand gesehen, wie wir hausen." Kein großes Problem für ihn, als er ein kleiner Junge ist. "Wir waren viel auf der Straße unterwegs." Mit seinem besten Freund spielt er Playmobil, träumt sich in ferne Westernwelten, wo es unter der heißen Sonne Arizonas Helden gibt und immer das Gute siegt. Weg vom Vater, der der Mutter vor seiner Schule auflauert und sie vor den Augen der Lehrerschaft an den Haaren übers Gras schleift. Oder der hämmernd und tobend vor der Tür steht.


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Im Keller trainiert er Kampfsport

Später beobachtet Seiler neidvoll die coolen Jungs, die mit 15 mit dem Mofa-Helm unterm Arm in die Schule schlendern. "Wenn sie mit den Mädchen loszogen, konnte ich nirgends mit, ich war einfach nicht dabei." Zugehörig zu den Akademikerfamilien seiner Mitschüler fühlt er sich eh nicht. "Ich war im Roten Buck zuhause, mit seinen Gangs." Im Keller trainiert er Kampfsport, um der Hochhausbande Paroli zu bieten.

Als er bei einem gut situierten Freund mit dessen Schwester tanzt, beendet ihr Vater die Party. "Mit so einem asozialen Gesocks hat meine Tochter nichts zu schaffen," ist sein Tenor. Das ist eine der krasseren Erfahrungen, aber kein Geld zu haben, bleibt fortwährendes Hintergrundrauschen, während die Mutter im Katalog Jeans und Schuhe für die nächste Saison bestellt und sie in Raten mit Sozialhilfe abstottert.

Bernd Seiler findet es ungerecht, dass er kein Schüler-Bafög bekommt wie sein Bruder zuvor

Dass er kein Schüler-Bafög bekommt wie einst sein Bruder unter Willy Brandt, findet der heute 55-Jährige ungerecht. "Es ist nicht richtig, dass es Lehrgeld gibt, aber kein Bafög für arme Schüler in der Oberstufe. Das ist doch für solche Eltern ein Problem. Sie sagen, ,du wohnst hier und isst und zahlst nichts. Musst du wirklich aufs Gymnasium?""


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Das Jugendzentrum ist ein Lichtblick

Zum Lichtblick wird das örtliche Jugendzentrum mit seiner alternativen Szene, in dem Bernd Seiler eine Rolle für sich findet. Weil die Rolle beinhaltet, nicht mehr in die Schule zu gehen, besucht er monatelang nicht den Unterricht und liest den Steppenwolf in der Nacht vor der Prüfung quer. Zur Verblüffung der Lehrer schafft er das Abi trotzdem, will studieren. "Nicht um viel Geld zu verdienen, sondern um das zu machen, was mich wirklich interessiert." Geschichte und Philosophie, ausgerechnet. Aber: "Ich war so glücklich, den Lernzwängen der Schule zu entkommen, das war das totale Freiheitsgefühl. Ich war wie beflügelt."

Für das Umfeld ist es jetzt egal, dass er ein armer Student ist, er aalt sich in den Studienfächern, fährt "ein Schrottauto", aber immerhin, schuftet in sämtlichen Semesterferien in Fabriken und fährt Zeitungen aus, um mit dem Bafög über die Runden zu kommen. "Wenn ich krank war, habe ich überlegt, ob ich mir Medizin kaufe oder etwas zu essen."

Heikel wird es, als das Bafög ausläuft

Richtig heikel wird es, als in der Prüfungsphase das Bafög ausläuft. Beim Studentenwerk gibt es einen Notkredit von 2500 Mark. "Als ich mit dem Studium fertig war, war ich verschuldet bis obenhin." Er zahlt sein Auto ab, bedient den Bafögkredit und zwei Bankkredite, das Girokonto ist weit überzogen. "Ich musste ein paar Mal umschulden."

Er findet einen guten Job aber zahlt lange Schulden ab

Als Seiler nach dem Studium eine Ausbildung beginnt, ist er im laufenden Betrieb bereits im Minus, ohne etwas gegessen zu haben. In Heilbronn findet er einen gut bezahlten Job. Aber während seine Kollegen im Urlaub um die Welt jetten, stottert er Schulden ab, bis er Ende 30 ist. "Ich habe rund 100.000 Mark zurückgezahlt." Sein Verhältnis zum Geld heute? "Ich bin eher großzügig. Aber ich möchte nie wieder etwas ausleihen müssen. Ich will immer einen Puffer haben, der mich aus der Gefahrenzone bringt."

 

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