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Interview
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Streetworkerin über Jugendliche auf den Straßen in Heilbronn: "Sie brauchen eine Ersatzfamilie, einen Halt"

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Bei ihrer Arbeit als Streetworkerin trifft die Heilbronnerin Jasmin Trefz auf viele junge Menschen, die Brüche erlebt haben und stark gefährdet sind, in die Sucht und Armut abzurutschen.

Jasmin Trefz (rechts) macht eine große Runde durchs Zentrum, um mit Menschen auf der Straße ins Gespräch zu kommen. Meist sind die Streetworker zu zweit. 
Foto:Berger
Jasmin Trefz (rechts) macht eine große Runde durchs Zentrum, um mit Menschen auf der Straße ins Gespräch zu kommen. Meist sind die Streetworker zu zweit. Foto:Berger  Foto: Berger, Mario

Als Streetworkerin sucht Jasmin Trefz Menschen in der Innenstadt in Heilbronn auf. Einige sind obdachlos, auch Jugendliche sind darunter, die von daheim oder aus ihrer Einrichtung abgehauen sind. Was das bedeutet und wie wichtig ein Anker für die jungen Leute ist, sagt sie im Interview.

 

Frau Trefz, mit wie vielen Menschen auf der Straße haben Sie Kontakt?

Jasmin Trefz: Bei den Erwachsenen, primär aus der Drogen-, Alkoholabhängigen und Obdachlosenszene, sind es rund 100 Personen im Monat. Bei den Jüngeren haben wir im vergangenen Jahr 87 Menschen im Alter von 13 bis 27 Jahren getroffen. Wir, das Streetwork Heilbronn, sind ein Projekt von zwei Trägern, dem Verein für Jugendhilfe und der Caritas mit zwei 100-Prozent-Stellen. Eine für Erwachsene und eine für Jugendliche.

 

Unterscheiden sich die beiden Gruppen sehr?

Trefz: Die Jugendlichen trifft man selten alleine, sie sind meist in Gruppen unterwegs. 50 Prozent kommen aus dem Landkreis, 50 Prozent aus der Stadt. Sie sind mobiler als die Erwachsenen, gehen zu Partydrogenclubs, Technoclubs. Sie sind oft eher kurzfristig untergebracht und leben zum Beispiel in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe in Heilbronn.

 

Das heißt, die Erwachsenen, mit denen Sie zu tun haben, sind meist wohnungslos, bei den Jugendlichen ist das nicht so?

Trefz: Jein. Auch bei den Erwachsenen ist der Großteil nicht wohnungslos. Die meisten haben als Hauptthema die Sucht, aber doch noch einen Wohnraum, in den sie sich zurückziehen können. Die Jugendlichen sind häufiger über eine kurze Dauer hinweg wohnungslos. Wenn sie daheim rausfliegen, schlafen sie ein paar Tage bei einem Kumpel. Sie finden noch schnell Lösungen, haben ihren Kreis, ihre peer-group. Das ist flexibler als bei Erwachsenen. Da ist eher jeder auf sich und sein Überleben fokussiert.

 

Leben von den 87 jungen Menschen ab 13 Jahren welche auf der Straße?

Trefz: Ja, das waren 17 Personen im vergangenen Jahr. Unter-18-jährige Obdachlose gibt es ja eigentlich nicht in Deutschland. Solche Kinder müssen in Obhut genommen werden und kommen in stationäre Angebote. Wenn sie von dort abhauen, werden sie gesucht von Polizei und stationärer Jugendhilfe, halten sich aber im öffentlichen Raum auf. Sie schlafen dann etwa in der Straßenbahn. Einmal hat mir ein 14-jähriges Mädchen erzählt, es schläft auf Parkbänken. Traumatisch, mit 14! Solche Erlebnisse prägen einen Menschen. Ein 16-Jähriger hat sich monatelang in einer Weinberghütte durchgeschlagen. Andere gehen mit Fremden mit, um dort zu übernachten. Das kommt relativ häufig vor, das sind keine Einzelfälle.

 

Wie kann man den Jugendlichen helfen?

Trefz: Das ist tatsächlich eine Gruppe, die hier nicht so bedient wird mit Angeboten. Das Naheliegendste sind die Inobhutnahmestellen, in die sie ja nicht gehen möchten. Ich schicke sie teils nach Stuttgart, weil es dort Angebote gibt wie den Schlupfwinkel. Da können speziell Minderjährige übernachten, müssen keine Daten abgeben, können Kleider waschen, duschen. Junge Menschen, die gerade erst 18 geworden sind, werden in Heilbronn direkt in die Obdachlosenunterkünfte in der Stadt geschickt.

 

Und das ist nicht die richtige Anlaufstelle?

Trefz: Überhaupt nicht. Per se sind diese 18-Jährigen vom Entwicklungsstand her nicht so weit wie Gleichaltrige. Sie benötigen einen besonderen Schutzraum, haben in ihrem Leben schon viele Brüche erlebt, Enttäuschungen, wurden vielleicht von den Eltern verstoßen. Sie tragen ein riesen Rucksack mit sich herum, auch schon mit 16. Sie sind eh nicht mehr auf der geraden Spur und stark gefährdet, in Sucht und Armut abzurutschen, durch fehlende Schulabschlüsse, fehlende Ausbildung. Da ist Wohnen in einem Obdachlosenheim keine gute Grundlage, um die Perspektive zu ändern und etwas aus seinem Leben zu machen. Das Risiko, an die falschen Leute zu geraten, ist dort sehr groß.

 

Was wäre besser?

Trefz: Lange wurde der Fokus auf stationäre Jugendhilfe gelegt. Aber es braucht ein Auffangbecken für Kinder, die es da nicht packen. Der Bedarf in Heilbronn ist da. Oft werden Kinder mit 18 aus der Jugendhilfe entlassen, direkt aus den stationären Angeboten auf die Straße. Ein Jahr habe ich in der Inobhutnahme gearbeitet. In der Zeit haben wir sechs Personen an ihrem 18. Geburtstag ins Obdachlosenheim gefahren Aber auch sie sind Bürger der Stadt und haben ein Recht auf Schutz.

 

Was können Sie als Streetworker tun?

Trefz: Wir sind eine Art Anwälte für die Jugendlichen. Wir haben Kooperationspartner im Ausbildungsbereich. Manchmal gehe ich zu einem Schulgespräch mit, auch wenn der Schüler eigentlich schon rausgeflogen ist. Bildung und Schule sind die Knackpunkte, da müsste man mehr fördern. Wer einen guten Beruf hat, ist relativ geschützt, in so eine Situation zu kommen. Wir nehmen ein wenig die Rolle der Erziehungsberechtigten ein.

 

Welche Hintergründe haben die Jugendlichen?

Trefz: Unterschiedliche. Da gibt es auch den Gymnasiasten, der Drogen nimmt. Was alle gemeinsam haben ist: Sie brauchen eine Ersatzfamilie, sie brauchen einen Halt. In der Not wird dann die peer group zur Familie.

 

Dann geht es weniger um Heimat als vielmehr darum, einen Anker zu finden?

Trefz: Definitiv. Anker ist ein schönes Bild. Den suchen sie alle. Teils in Beziehungen, was aber auch oft toxisch ist, wenn die Person in der Drogenszene ist. Im Gegensatz zu den Erwachsenen. Die haben die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihren Anker noch finden.

 

Wie groß ist der Anteil der süchtigen Jugendlichen in Heilbronn?

Trefz: Der liegt bei rund einem Drittel. Jugendliche haben mehr Motivation, von Drogen loszukommen. Ich kenne viele, die exzessiv konsumiert haben, eine Ausbildung beginnen und es dann völlig sein lassen. Trotzdem ist der Konsum bei allen 87 Jugendlichen auf der Straße sehr bedenklich. Und wenn ich meine erwachsenen Klienten frage, wie die Sucht bei ihnen angefangen hat, sagen 80 Prozent: "damals, als ich 13 war."

 

Geht es vorrangig um Alkohol?

Trefz: Um Mischkonsum. Sie probieren alles, aus Neugier. Aber Cocktails aus verschiedenen Substanzen können leicht zu einer Überdosis führen, lebensbedrohlich werden. Da ist auch unsere Aufgabe, aufzuklären. Synthetische Drogen wirken teils sehr intensiv und werden total unterschätzt. In Heilbronn wird viel öffentlicher konsumiert und viel wilder gemischt als noch vor einigen Jahren. 2021 gab es mehrere Todesfälle von Unter-25-Jährigen in Heilbronn.

 

Ist es schwer, die Spirale zu unterbrechen?

Trefz: Nein, das funktioniert schon. Was die Jugendlichen brauchen, ist Beziehung. Jemanden, dem sie vertrauen können. Einen Ansprechpartner, der es gut mit ihnen meint und sie annimmt. Wenn diese Weiche gestellt ist, sind sie oft wie ausgetauscht, entwickeln neue Perspektiven, vielleicht doch die Ausbildung zum Kfz-Mechaniker anzufangen. Unsere Arbeit kann viel erreichen bei Menschen, die schon in jungen Jahren durch alle Raster gefallen sind. Viele schaffen den Absprung auch durch einen Ortswechsel.

 

Sie haben keinen festen Standort, an dem Sie zu finden sind. Ist das ein Problem?

Trefz: Dass wir kein eigenes Büro haben, macht es schwieriger. Denn bei der Suchtberatung klingeln zu müssen und dort einen Termin zu brauchen, schreckt Jugendliche ab. Wenn es etwas geben würde, wo sie jeden Tag hinkommen könnten, würde das die Hilfe viel einfacher machen. So bleibt sie manchmal einfach aus.

 

Meinen Sie, daran wird sich etwas ändern? Ist das Thema, auch auf kommunaler Ebene?

Trefz: Streetwork ist bei einer Stadt von der Größe Heilbronns nicht selbstverständlich, Aber aufsuchende Arbeit ist sehr effektiv. Ich glaube, da findet gerade ein Umdenken bei Entscheidungsträgern statt.

 


Zur Person

Jasmin Trefz kennt als gebürtige Heilbronnerin die Stadt in- und auswendig. Zu ihrem Berufswunsch kam die 30-Jährige über ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Behindertenhilfe der Evangelischen Stiftung Lichtenstern. Vom naturwissenschaftlichen Gymnasium kommend, erwachte dort ihr Interesse am Sozialen. Ihr damaliger Chef motivierte sie zum Studium der Sozialen Arbeit, ihm ist sie heute noch dankbar. In ihrer Freizeit kümmert sie sich um ihren Hund aus der Ukraine, den sie bald auf eine Tour zu den Jugendlichen mitnimmt, weil er eine so fröhliche Aura hat.

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