Nach AfD-Nazi-Vergleich: Juratovic spricht von "Weckruf vor Verharmlosung der AfD"
Der Heilbronner SPD-Bundestagsabgeordnete Josip Juratovic erklärt, warum er seinen umstrittenen Vergleich von AfD-Wählern mit denen der NSDAP gezogen hat. Wann der Shitstorm besonders heftig wurde und ob er seine Aussage wiederholen würde.

Mit dem Vergleich von AfD-Wählern mit denen von Hitlers NSDAP hat der Heilbronner SPD-Bundestagsabgeordnete Josip Juratovic bei einer öffentlichen Diskussion Mitte Juli heftige Diskussionen ausgelöst. Welche Reaktionen er erntete und ob er den Vergleich noch einmal machen würde, verriet Juratovic im Interview mit unserer Redaktion.
Herr Juratovic, Ihre Gleichsetzung von AfD-Wählern mit denen der NSDAP hat für Aufsehen gesorgt. Wie geht es Ihnen heute?
Josip Juratovic: In Anbetracht der politischen Entwicklung in Deutschland und in der Welt fühle ich mich besorgt und bestätigt zugleich. Ich bin froh darüber, dass mich die große Mehrheit unserer Mitbürger richtig verstanden hat und sogar dankbar dafür ist, dass jemand öffentlich sagt, was viele über die AfD denken. Besonders freut es mich, dass meine Partei geschlossen hinter mir steht und auch aus anderen demokratischen Parteien und Organisationen wie der Deutsch-Israelischen Gesellschaft oder den Gewerkschaften Unterstützung kommt.
Sie haben sich zuletzt auf Twitter für die Unterstützung der Menschen bedankt. Gab es auch Anfeindungen?
Juratovic: Ja. Es gibt das alte deutsche Sprichwort: Getroffene Hunde bellen. Besonders aktiv war der Twitter-Sturm, nachdem die "Junge Freiheit" - das Sprachrohr der Neuen Rechten und der AfD - die Berichterstattung aufgegriffen hat.
Die Bundes-Parteispitze in Berlin schweigt. Anfragen unserer und auch anderer Zeitungen bezüglich Ihres Vergleichs blieben unbeantwortet. Hätten Sie sich mehr Rückendeckung von der SPD erhofft?
Juratovic: Die Rückendeckung aus meiner Partei ist außerordentlich groß. Mehr kann man sich als Abgeordneter nicht wünschen. Dass sich die Parteispitze nicht zu jedem Zitat eines gewählten Abgeordneten äußert, halte ich für nachvollziehbar.
Würden Sie den Vergleich heute noch einmal so anstellen?
Juratovic: Ja, ich würde wieder sagen, dass wir den Wähler nicht aus der Verantwortung lassen dürfen, was den politischen Zustand in unserem Land angeht. Viele, die heute AfD wählen, hätten damals - gemeint war die Weimarer Republik - unbewusst oder bewusst NSDAP gewählt. Viele Protestwähler wussten auch damals nicht, was sie mit ihrer Stimme anrichten. Somit ist das keine Verharmlosung der Nazis, sondern der Weckruf vor der Verharmlosung der AfD.
Die Weimarer Republik war eine Republik ohne demokratische Tradition. Hitlers Partei ist groß geworden in einer Gesellschaft voller Ressentiments und revanchistischen Gedankenguts nach dem Ersten Weltkrieg. In einer Republik, in der die SA als uniformierte Schlägertruppe der NSDAP für Angst und Schrecken sorgte. Und so weiter. Sehen Sie allen Ernstes eine Analogie zur Bundesrepublik 2023?
Juratovic: Jede Zeit hat ihre Wohltäter und Übeltäter - wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Die AfD ist groß geworden in einer Gesellschaft, in der EU-Gegner und Menschen, die Ressentiments gegenüber Zuwanderern schüren, besonders laute Töne anschlagen. Seit Jahren müssen wir eine immer weitere Radikalisierung der AfD beobachten. In den Schulen tritt die AfD-Jugend organisiert auf, und Lehrer werden denunziert. Schauen Sie nur nach Brandenburg, wo kürzlich zwei Lehrkräfte die Schule verlassen haben, nachdem sie auf rechtsextreme Vorfälle aufmerksam gemacht haben. Die AfD versucht, die Deutsch-Israelische Gesellschaft zu unterwandern und gegen die Muslime auszuspielen.
Gibt es DEN AfD-Wähler?
Juratovic: Schon immer gibt es Wähler, die ihre Stimme einer rechtsradikalen Partei geben. In Ihrer Zeitung hat Pia Lamberty am 14. Juli sinngemäß gesagt, dass, wer die AfD wählt, zumindest kein Problem in ihr sieht. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Wer die AfD wählt, beteiligt sich an deren Politik. Das besorgniserregende ist, dass die AfD durch Lügen, Verschwörungstheorien und Angstmacherei vor dem Neuen und dem Fremden die Menschen zum freiwilligen Verzicht auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zugunsten der vermeintlichen Sicherheit bewegt. Wie gefährlich das ist, sieht man bereits in Russland, der Türkei und auf dem Westbalkan.
In einer ganzen Reihe anderer europäischer Staaten haben rechtsextreme Parteien Zulauf. In Italien stellen sie gar die Ministerpräsidentin. Hätten deren Wähler in Italien, Frankreich, Schweden und so weiter auch damals NSDAP gewählt? Oder ist dieser Vergleich ein typisch deutscher Reflex?
Juratovic: In anderen Ländern hatten die nationalistischen Parteien damals andere Namen, aber die gleiche faschistoide Gesinnung, und auch damals waren sie europaweit vernetzt. Der Charakter heutiger nationalistischer Kräfte ist überall der gleiche. Sie bieten keine Lösungen an, sie verbreiten Angst und Misstrauen und betreiben eine Sündenbockpolitik. Sie halten die Demokratie für eine Schwäche, da sie auf Dialog und Kompromiss beruht.
Wie wollen Sie AfD-Wähler für die Sozialdemokratie begeistern?
Juratovic: Die Gesellschaft und die Protestwähler wachrütteln. Ihnen klar machen, dass sie sich selbst bestrafen, wenn sie Rechtsradikale an die Macht bringen. Es gibt keine einfachen Lösungen auf komplexe Zukunftsfragen. Ich kann die Unsicherheit und die Angst der Menschen in Zeiten des Klimawandels, der Pandemie, der Inflation - der vielfachen Krisen - nachvollziehen. Angst ist aber kein guter Ratgeber.
Glauben Sie, AfD-Wähler zurückgewinnen zu können? Sie sagen ja, ALLE AfD-Wähler hätten damals Adolf Hitler gewählt.
Juratovic: In der Tat ist es nicht mein Ansinnen ALLE AfD-Wähler für die SPD zurückgewinnen. Ich will nicht Europagegner und jene, die die Demokratie missbrauchen, um sie abzuschaffen. Als Politiker kämpfe ich um jede Stimme - aber als Demokrat nicht um jeden Preis.
Zur Person
Josip Juratovic ist seit 2005 als Heilbronner SPD-Abgeordneter im Berliner Bundestages. Der 64-Jährige lebt in Gundelsheim, ist verheiratet und hat drei Kinder. Vor seinem Einzug in den Bundestag war er zuletzt freigestellter Betriebsrat bei Audi in Neckarsulm.