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Die perfiden Methoden krimineller Banden bei Schockanrufen

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Der Schock sitzt tief bei Sabine V.: Ein angeblicher Polizist aus Heilbronn hat versucht, sie mit raffinierten Tricks um 176.000 Euro zu erleichtern. Betrüger haben sie am Telefon in Angst und Schrecken versetzt, um an ihr Geld zu kommen. Für die Ermittler der Polizei ist es schwierig, solchen Tätern auf die Spur zu kommen.

von Sarah Utz
Sogenannte Keiler bringen mit geschickter Gesprächsführung und Angstmache ihre Opfer dazu, Bargeld und Wertsachen zu übergeben. Foto: Arno Burgi/dpa-Zentralbild/dpa
Sogenannte Keiler bringen mit geschickter Gesprächsführung und Angstmache ihre Opfer dazu, Bargeld und Wertsachen zu übergeben. Foto: Arno Burgi/dpa-Zentralbild/dpa  Foto: Arno Burgi (dpa-Zentralbild)

Um zwanzig nach elf klingelt das Telefon von Sabine V. in Bremen. Am anderen Ende der Leitung weint ihr Sohn: "Mutti, ich habe einen ganz schrecklichen Verkehrsunfall verursacht, hilf mir bitte." Danach übernimmt ein Polizist den Hörer. Er sagt, er sei Kommissar am Polizeipräsidium Heilbronn. Der Sohn von Sabine V. sei nach dem Unfall verhaftet worden. Er habe eine rote Ampel missachtet und in der Folge eine junge Mutter mit ihrem vierjährigen Sohn überfahren. Das Kind sei tot, die Mutter würde ebenfalls sterben. Dass der angebliche Polizist ein Betrüger ist und ihr Sohn in Wahrheit nicht in Haft, sondern zu Hause an seinem Schreibtisch im rund 600 Kilometer entfernten Heilbronn sitzt und arbeitet, ahnt die Bremerin nicht.

"Es hat mich bis ins Mark getroffen", sagt die 75-Jährige, die ihren vollständigen Namen aus Angst, erneut Opfer der Kriminellen zu werden, nicht auf stimme.de lesen will. Der Schreck sitzt noch immer tief. Mit einem sogenannten Schockanruf haben Betrüger Anfang Februar versucht, 176.000 Euro von ihr zu erbeuten. Immer wieder (in der Region auch aktuell) warnt die Polizei vor betrügerischen Maschen von Anrufern, die sich als Polizist, Staatsanwalt oder als eigene Angehörige ausgeben, um an das Geld ihrer Opfer zu kommen. Und trotzdem fallen ältere Menschen immer wieder darauf rein.

Es geht um Geldbeträge in Millionenhöhe

Mit solchen Methoden kommen Betrüger an Millionen von Euro. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichen reportMünchen und rbb24 das Ergebnis einer Umfrage bei den 16 Landeskriminalämtern: Mit Betrugsmaschen am Telefon haben kriminelle Banden zwischen 2018 und 2020 bundesweit Geld, Schmuck und Gold im Wert von mindestens 120 Millionen Euro erbeutet. 48-mal sind im Jahr 2020 Betrugsfälle bei der Polizei in Heilbronn gemeldet worden, in drei Fällen waren die Täter erfolgreich. Offizielle Zahlen gibt es aktuell nur aus den Jahren bis 2020. Die Kriminalstatistik für das vergangene Jahr wird erst im März veröffentlicht. Im Zeitraum vor 2021 sind der Polizei vor allem Fälle von Enkeltrickbetrug sowie Fälle von falschen Polizeibeamten gemeldet worden, die zum Beispiel Wertsachen einsammeln, um sie vor angeblichen Einbrechern zu schützen.


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Nach Kenntnis der Polizei spezialisieren sich Gruppen auf bestimmte Maschen. Wie viele solcher Täter-Gruppierungen in Deutschland aktiv sind, kann Carsten Diemer, Polizeisprecher des Präsidiums Heilbronn, nicht sagen. Die Anrufer sitzen meistens in Callcentern im Ausland. Eines davon betrieb der wohl bekannteste Clan um "Papa Kralle", der vom türkischen Izmir aus operierte und von Ermittlern im Jahr 2020 enttarnt wurde. 

Die Spezialisierung auf bestimmte Maschen hat für die Täter einen großen Vorteil: Durch routinierte, gut geschulte Anrufer erhöhen sie ihre Erfolgsquote. Geschickte Gesprächsführung lockt ihr Opfer in die Falle. Die Polizei nennt diese Anrufer "Keiler" – sie treiben einen Keil in die Tür und öffnen damit den Weg zum Vermögen von Senioren. Carsten Diemer vom Heilbronner Polizeipräsidium sagt: "Die Anrufer versuchen mit gezielten Fragen herauszufinden, wie viel es zu holen gibt. Entsprechend wird die spätere Forderung individuell angepasst." 

Was weiß der Anrufer über sein Opfer?

Von Sabine V. will der vermeintliche Polizist am Telefon viele persönliche Daten wissen. Hat sie den Vornamen ihres Sohnes genannt? Daran kann sich die Bremerin nicht erinnern. "Aber die wussten, in welcher Straße er wohnt. Das habe ich nicht gesagt." Im Fall von Marcus V. sind die von den Anrufern genannten Angaben samt Foto schnell über Online-Suchmaschinen zu finden: Familienname und Wohnort führen zu einem Social-Media-Profil mit Foto und vollem Namen. Die Internetsuche mit vollem Namen und Wohnort spuckt in diesem Fall als dritten Treffer die Wohnanschrift aus. Ein weiteres Detail irritiert die 75-Jährige: Im Verlauf des Gesprächs sollen die Betrüger den Namen ihres verstorbenen Vaters genannt haben.

Nach Einschätzung von Polizeisprecher Carsten Diemer sind Betrüger jedoch eher nicht auf bestimmte Opfer vorbereitet. Der Erfolgsweg führt über die Masse. Man gehe davon aus, dass sie Listen abtelefonieren. So komme es auch wieder zu Anrufwellen, vor denen die Polizei dann in Pressemeldungen warnt. Persönliche Informationen im Gespräch kämen meistens von den Opfern selbst. Die Gesprächsführung sei so, dass der Druck permanent steigt. "Manchmal kriegen die Anrufer durch Suggestivfragen so geschickt Informationen, dass die Leute nicht mehr wissen, dass sie das gesagt haben", sagt der Polizeisprecher. "Der Wohnort, der Name werden nicht von dem Keiler ins Gespräch gebracht. Die Leute fragen meistens danach und verwenden es später wie eigenes Wissen." 

Das Spiel mit der Angst

Sabine V. soll auch ihre Handynummer angeben – dort soll sich gleich der "sehr gute Anwalt aus Heilbronn" melden, den sich ihr Sohn Marcus V. gesucht habe. Der Anwalt meldet sich direkt auf dem Handy – am Festnetz will die Polizei trotzdem in der Leitung bleiben. "Die Täter wollen, dass alle Leitungen belegt sind, damit die Betroffenen keine Hilfe rufen können", sagt Polizeisprecher Carsten Diemer. Um überhaupt misstrauisch zu werden, bleibt Sabine V. nach eigener Aussage keine Gelegenheit. Mit immer neuen schrecklichen Unfalldetails konfrontiert, ist ihr einziger Gedanke: "Wie soll Marcus seelisch mit diesem schrecklichen Unfall fertigwerden? Wenn man zwei Menschen überfährt, kann man damit eigentlich nicht weiterleben."

Was der Anwalt dann sagt, knüpft genau an diesen Gedanken an. Der Sohn sei stark suizidgefährdet – wenn er die Nacht im Gefängnis verbringen müsse, würde er sich wahrscheinlich umbringen. Vor der Haft könne ihn einzig die Zahlung einer Kaution* bewahren, die von der Staatsanwaltschaft auf 176.000 Euro festgelegt wurde. Der Druck wird größer: "Sie müssen jetzt Geld auftreiben, sie müssen sich schnell überlegen, wo das Geld herkommt."

Der Gedanke, dass der Sohn sich umbringen könnte, habe sie um den Rest gebracht, sagt Sabine V. "Da habe ich alles gesagt, was die wissen wollten." Schmuck, Uhren, Bargeld, sonstige Wertsachen – auf Anweisung des angeblichen Anwalts durchsucht sie ihr ganzes Haus – mit konkreten Angaben, wo sie noch nachsehen soll. Eine teure Uhr, das stellt die 75-Jährige beim Durchsuchen der Schubladen fest, trägt ihr Mann am Handgelenk. In der nächsten Viertelstunde sollte er zu Hause eintreffen, man müsse auf ihn warten. Ein Gespräch mit dem Mann lehnt der Anwalt ab. Nach einer kurzen Diskussion lässt er sich jedoch darauf ein, zu warten, will aber so lange am Hörer bleiben. Endlich wird es Sabine V. zu viel – sie legt auf.

*Zur Einordnung: Auch wenn man eine Freilassung auf Kaution sonst eher aus Amerika kennt: Es gibt sie auch in Deutschland. Allerdings gibt es sie nur in sehr seltenen Fällen - und dann auf Anordnung eines Richters.

Ziel verfehlt

Das Ziel solcher Anrufe ist, eine Geldübergabe zu vereinbaren. Wenn die Betrüger nach dem beendeten Anruf dafür keine Chance mehr sehen, geben sie im Normalfall auf. "Der Keiler investiert seine Zeit besser, wenn er versucht, ein neues Gespräch anzubahnen", erklärt Polizeisprecher Diemer. Im Fall von Sabine V. besteht für die Betrüger noch Hoffnung. Die Anrufer melden sich um 13 Uhr wieder. In der Zwischenzeit bemerkt die Familie von Sabine V. jedoch, dass es sich bei dem Anruf um einen Betrugsversuch handelt.

Als ihr Mann kurz nach dem Telefonat nach Hause kommt, glaubt er seiner Frau. Trotzdem versuchen die beiden, ihren Sohn zu erreichen. Doch der geht nicht ans Telefon. Inzwischen ist auch ihre Tochter über den Vorfall informiert. Sie ruft die Heilbronner Polizei an und erfährt: Ein solcher Unfall hat nicht stattgefunden. Doch Sabine V. kann nicht glauben, dass es sich um eine Lüge handeln könnte – zumindest nicht bei der Stimme und der Wortwahl des Sohns: "Das war mein Marcus mit Originalstimme. Wenn er Mama gesagt hätte, wäre ich sofort hellhörig geworden. Er nennt mich Mutti." Selbst als sie über die berufliche Telefonnummer endlich den Sohn erreichen, ist der erste Satz des Vaters: "Mensch Marcus, ich denke du bist im Gefängnis!"

Nachdem der erste Schreck überwunden und die Situation aufgelöst ist, rät Sohn Marcus V. seinen Eltern, sich sofort an die Polizei zu wenden. Die ist dankbar für jeden gemeldeten Fall: "Sobald wir von einer Anrufwelle wissen, können wir mit einer Warnung rausgehen." Marcus V. nimmt die Schocksituation seiner Mutter mit. Ob er sich nun Sorgen machen müsse, wisse er nicht genau. Eine im Haus installierte Alarmanlage gibt Sicherheit: Die schafften sich die Bremer an, nachdem vor einigen Jahren in ihr Haus eingebrochen worden war. "Das haben sie damals sehr schnell überwunden. Dieses Thema ist jetzt ein anderes. Das hat, gemischt mit der Mutter-Kind-Liebe, genau da getroffen, wo es für ältere Leute am schlimmsten ist: Nämlich bei der Frage, ob man langsam nicht mehr klar denken kann."

Kleines Hellfeld, große Dunkelziffer

Carsten Diemer vom Polizeipräsidium Heilbronn sagt: "Die Dunkelziffer ist sehr schwer zu bemessen. Aufgrund der Ermittlungen wissen wir aber, dass die sehr hoch ist." Grund dafür sei, dass sich viele Betrugsopfer schämen. Sabine V.  macht da eine Ausnahme. Sie will möglichst vielen von dem erzählen, was sie erlebt hat - um andere zu warnen. Ihr Sohn Marcus V. sagt im Rückblick: "Meiner Mutter war es anfangs schon peinlich. Aber es war gut, dass es ihr keiner vorgeworfen hat – außer ich ein bisschen, weil ich dachte 'Erkennst du die Stimme von deinem eigenen Sohn nicht mehr?' Man muss sich da wirklich reinversetzen. Ich denke, ich hätte es fast auch geglaubt, wenn ich von Schockanrufen noch nicht gehört hätte."


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