Wie sind Ungeimpfte zu erreichen?
Experten sehen Aufklärung und leicht zugängliche Angebote als Schlüssel, um die Impfquote zu erhöhen. Der Schwaigerner Arzt Ulrich Enzel rät, sich stärker um solche Menschen zu bemühen, die selten oder gar nicht zum Arzt gehen.

Rund 63 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind inzwischen vollständig geimpft. Viel zu wenig, um die vierte Welle aufzuhalten, da sind sich Experten einig. Sie gehen davon aus, dass dafür ein Wert um die 85 Prozent nötig wäre. Dieser wäre theoretisch erreichbar, wie Forscher der Universität Erfurt in ihrem jüngsten Cosmo-Covid-19-Monitoring herausgefunden haben. "Sollten sich alle, die dazu bereit sind, auch tatsächlich impfen lassen, so ergäbe sich aus den Geimpften und den Impfbereiten eine Impfquote unter Erwachsenen zwischen 18 und 74 Jahren von 86 Prozent", heißt es darin. Die Forscher plädieren für eine Kombination aus "aufsuchendem Impfen" und "offensiven Aufklärungskampagnen" mit einer stärkeren Einbindung von Ärzten.
Der Schwaigerner Arzt Ulrich Enzel, der sich im deutschsprachigen Raum für Impfaufklärung engagiert, sagt: "Wir müssen dort Impfangebote machen, wo die Leute sind, die selten oder gar keinen Arzt aufsuchen." In Moscheen und Freizeiteinrichtungen etwa oder in Firmen, mit einer Impfung während der Arbeitszeit. Ein Überblick – Teil zwei folgt morgen.
Junge Frauen: Eine Gruppe, die als besonders impfskeptisch ausgemacht wurde, sind junge Frauen. Sie seien eine wichtige Zielgruppe für Aufklärung, so die Autoren der Cosmo-Studie. Die Impfempfehlung der Stiko könne zum Anlass genommen werden, Unsicherheiten rund um Impfung, Fruchtbarkeit und Kinderwunsch zu adressieren, heißt es. Für Ulrich Enzel ist die weit verbreitete Impfskepsis in dieser Gruppe ein lange bekanntes Problem. "Dabei sind Schwangere, die an Covid-19 erkranken, großen Gefahren für sich selbst und ihr Kind ausgesetzt", sagt er. Eine Erkrankung kann Fehlgeburt, Frühgeburt und im schlimmsten Fall den Tod von Mutter und Kind bedeuten. Enzel erklärt: "Die Schwangerschaft ist eine immunologische Sondersituation. Damit das Baby nicht abgestoßen wird, muss das Immunsystem der Frauen herunterfahren." Deshalb sei eine Covid-19-Erkrankung für Mutter und Kind eine besondere Bedrohung. Durch eine Impfung minimiere sich das Risiko für einen schweren Verlauf – während das Risiko einer Impf-Komplikation sogar eher niedriger sei als in der Gesamtbevölkerung. "Das liegt auch daran, dass Schwangere oder Frauen mit Kinderwunsch einer bestimmten Altersgruppe angehören."
Was Enzel auf die Palme bringt, sind Mythen und Vorurteile gegenüber Impfungen, die in der Gruppe junger Frauen seiner Beobachtung nach häufig kursieren – auch, was andere Impfungen angeht. "Es scheint in diesen Kreisen irgendwie schick zu sein, sein Kind nicht impfen zu lassen. Offenbar denken manche, sie könnten sich damit von der Masse abheben." Harte Kritik übt Enzel an einigen Hebammen. "Alle im Gesundheitswesen Tätigen müssen eigentlich unabhängig von der eigenen Weltanschauung zumindest auf eine entsprechende Stiko-Empfehlung hinweisen." Seiner Erfahrung nach bestärken aber manche Hebammen junge Mütter darin, ihr Kind nicht impfen zu lassen. "Frauen sind den Hebammen in der Schwangerschaft regelrecht ausgeliefert."
Auch die Frage nach der Unfruchtbarkeit komme bei ihm ständig an, dabei sei das Gegenteil der Fall. "Diese Impfung kann nicht unfruchtbar machen und löst auch keine genetischen Veränderungen aus." Sie verhindere vielmehr schwere Schwangerschafts-Komplikationen, die zum Beispiel zu einer Fehlgeburt führen können. Bei geimpften Männern erhöhe sich die Spermienzahl deutlich.
Schüler: Enzel war lange Jahre Kinder- und Jugendmediziner mit eigener Praxis in Schwaigern. So gilt sein besonderes Augenmerk jungen Menschen. Er geht hart mit der Politik ins Gericht, was die Perspektiven für ein geregeltes Schuljahr 2021/2022 betrifft. "Die uneingeschränkten Reisemöglichkeiten in diesem Sommer waren das Schlimmste, was wir tun konnten." 85 Prozent der zweiten Welle vor einem Jahr sei durch Reisetätigkeit ausgelöst worden. "Die Politiker wussten das." Nun geschehe dasselbe wieder. Bei den über 12-Jährigen, für die inzwischen auch eine Covid-Impfempfehlung der Stiko vorliegt, waren Stand Montag etwa 26 Prozent vollständig geimpft.
"Das Abwarten auf die Stiko-Empfehlung war richtig, aber jetzt müssen wir ganz schnell nach vorne gehen", sagt Enzel. Er hält es für "die effizienteste Maßnahme" an Schulen zu impfen. Die soziale Sogwirkung, die dadurch entstehe, sei wünschenswert. Ob es ausreicht, in der Gruppe der Lehrer und Erzieher bei gutem Zureden zu bleiben, bezweifelt er mittlerweile. Dabei hätten sie "die moralische Pflicht", die ihnen anvertrauten Kinder zu schützen, indem sie sich selbst impfen ließen. Enzels Appell: "Es geht um Leben und Tod. Man hat die Möglichkeit, sich impfen zu lassen oder eine Krankheit mit potenziell tödlichem Verlauf zu bekommen oder durch Long-Covid eine Leben lang gezeichnet zu sein."