Stadtteile auf der grünen Wiese: Umweltschützer entsetzt nach Kanzler-Aussage in Heilbronn
Beim Halbzeit-Wahlcheck der Heilbronner Stimme hat Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntagabend gesagt, dass Deutschland neue Stadtteile wie in den 70er Jahren benötige. Das kommt bei Umweltverbänden nicht gut an. Kritik kommt auch aus der SPD.
Horst Schulz hält vom Vorschlag des Kanzlers nichts. "Das ist der völlig falsche Weg", sagt der Bad Friedrichshaller, der sich im Naturschutzbund engagiert und sich für die Umweltschützer auch immer wieder mit der Ausweisung von Baugebieten und Flächennutzungsplänen befasst hat. "Natürlich brauchen wir Wohnungen", sagt Horst Schulz. Nur: Er sieht die Politik an anderer Stelle gefordert. So gebe es in bestehenden Baugebieten seit Jahrzehnten noch unbebaute Grundstücke. Viele private Eigentümer wollen sie nicht bebauen: Bislang fehlt der Kommunalpolitik die Handhabe, diese Flächen auf den Markt zu bringen. "Da müsste man ran", sagt Horst Schulz.
Weitere Stadtteile auf der grünen Wiese lehnt Horst Schulz ebenfalls aus Umweltschutzgründen ab. In der Region Heilbronn gebe es kaum noch naturbelassene Flächen, sagt er im Gespräch mit der Stimme. Viele Menschen im Land haben mit einer Petition den Landtag aufgefordert, sich mit dem weiteren Flächenverbrauch zu befassen und ihn zu reduzieren. Das Land Baden-Württemberg strebe zudem an, ab Mitte der 30er-Jahre keine weiteren Flächen zusätzlich zu verbrauchen.
Oberbürgermeister von Öhringen zu Scholz' Aussagen: Bauen auf grünen Wiesen hat Vorteile
„Die Mischung machts: Vorteile des Bauens auf der grünen Wiese sind, dass man gestalten und zum Beispiel die wichtige Nahwärmeversorgung gleich in die neue Straße einbauen kann“, sagt Öhringens OB Thilo Michler. Öhringen hat gleich zwei Baugebiete, die in den letzten Jahren so entstanden sind. Zum einen die Büttelbronner Höhe bei Möhrig. Dann das Baugebiet Limespark, das in mehreren Bauabschnitten erschlossen wird. Auch wenn Bauen auf der grünen Wiese für die Stadtplaner durchaus von Vorteil ist: „Gleichzeitig ist jegliche Innenentwicklung zu bevorzugen“, sagt Michler mit Blick auf den Flächenverbrauch.
In Künzelsau sieht man dies ähnlich. „Das Thema flächenschonendes Bauens hat in der städtebaulichen Ausrichtung unserer Kommune, insbesondere im Rahmen der Stadterneuerung, eine hohe Bedeutung“, so Bürgermeister Stefan Neumann. Die Nachfrage an Wohnraum könne jedoch nicht allein durch Innenentwicklung gedeckt werden. „Das Prinzip des Bauens in die Höhe oder in die Tiefe spielt eine bedeutende Rolle, um den Flächenverbrauch zu reduzieren.“ Entsprechend entwickle man mit der Haselhöhe in Gaisbach ein klimapositives Gebiet mit einem Schwerpunkt auf Mehrfamilienhäusern.
Olaf Scholz für neue Stadtteile: Über Aussage wundert sich auch ein Bürgermeister
Bad Friedrichshall gehört zu den Städten in der Region Heilbronn, die ein hohes Bevölkerungswachstum erwartet – auch weil die Schwarz-Gruppe dort eine große IT-Zentrale errichtet. Zur Aussage von Olaf Scholz sagt Bad Friedrichshalls Bürgermeister: "Sie überrascht mich schon." Die Haltung des Bundeskanzlers passt für Timo Frey nicht zu den Vorgaben im Land Baden-Württemberg, das die sogenannte Netto-Null anstrebt, also das Ziel hat, den Flächenverbrauch zu stoppen. Timo Frey hält nichts davon, nur auf die bereits erschlossenen, aber nicht bebauten Grundstücke zuzugehen. Das allein nehme nicht den Druck auf dem Wohnungsmarkt.
Die Stadt Bad Friedrichshall will zusammen mit den Gemeinden Oedheim und Offenau den Flächennutzungsplan vorantreiben, der sich mit weiteren Baugebieten beschäftigt. Der Gemeinderat habe erst kürzlich davon Abstand genommen, 41 Hektar für den Wohnungsbau zu reservieren. Stattdessen wolle er nun 30 Hektar für weitere Wohnungen sichern, so der Bürgermeister. Wann die Gebiete tatsächlich erschlossen werden, steht derzeit nicht fest. Der Gemeinderat, so jedenfalls Timo Frey, strebe ein "maßvolles Wachstum" an, im Inneren der Stadt neue Wohnprojekte zu forcieren, bleibe aber das oberste Ziel. Wenn außen bebaut werde, dann nicht wie früher mit klassischen Ein-Familienhäusern, so der Bürgermeister.
Das sagt Neckarsulms Oberbürgermeister Steffen Hertwig – wie Scholz bei der SPD
„Ich halte es nicht für richtig, die aktuelle Wohnungsnot mit Konzepten aus den Siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lösen zu wollen", sagt Neckarsulms Oberbürgermeister Steffen Hertwig (SPD). "Für die Stadt Neckarsulm ist es jedenfalls keine Option, massenhaft neue Wohngebiete im Außenbereich zu entwickeln." Das scheitere zum einen schon an der begrenzten Gemarkungsfläche. Zum anderen widerspreche dies sämtlichen Vorgaben: den Vorgaben der Bundesregierung, den Vorgaben des Landes und der Strategie der Stadt Neckarsulm. Im Rahmen der Gesamtstrategie „Innenentwicklung Wohnen – Kernstadt“ räume die Stadt Neckarsulm der Innenentwicklung grundsätzlich Vorrang vor der Außenentwicklung ein, so der OB.
"Statt neue Baugebiete zu entwickeln, initiiert und fördert die Stadt erfolgreich Innenentwicklungsprojekte privater Bauträger." Die Stadt mobilisiere vorrangig brachgefallene Baugrundstücke und schaffe in Zusammenarbeit mit privaten Investoren neuen Wohnraum. "So kann der Bodenverbrauch im Sinne des Klima- und Bodenschutzes minimiert und der Siedlungskörper kompakt und vital gehalten werden."
Neckarsulms Oberbürgermeister fordert neue, innovative Ideen vom Bundeskanzler
Steffen Hertwig ergänzt: "Wenn der Bundeskanzler zum Umdenken aufruft, sollte er nicht in alte Denkmuster zurückfallen, sondern neue, innovative Ideen propagieren." Hertwig gibt ein Beispiel: So habe Neckarsulm zum Beispiel ein freies städtisches Baugrundstück inmitten eines bestehenden Wohngebietes zur Bebauung mit winzigen Häuschen, Tiny Häusern genannt, ausgelobt, um neue, alternative Wohnformen zu erproben. "In Großstädten oder Ballungsräumen könnten zum Beispiel leerstehende Bürogebäude, von denen es angesichts des Wandels in der Arbeitswelt – Stichwort Homeoffice – immer mehr gibt, zu Wohnungen umgebaut werden. Hier könnte der Bund mit entsprechenden Fördermodellen unterstützend eingreifen.“
"Ich befürchte, dass diese hier geäußerten Vorschläge jungen Familien wenig nützen", so AWO-Geschäftsführer Stratos Goutsidis. Für ihn hört es sich zwar gut an, höher zu bauen oder neue Stadtteile zu erschließen. "Ohne ein umsetzbares Konzept für den sozialen Wohnungsbau und den Willen, dies zu priorisieren, nützt das alles recht wenig."
Bauwirtschaft stimmt Bundeskanzler Olaf Scholz zu
Bei den Überlegungen von Kanzler Scholz gilt es über Zielkonflikte zum Thema Flächenverbrauch zu sprechen, so Eppingens Oberbürgermeister Klaus Holaschke, der auch Erster Vizepräsident des Gemeindetags ist. „Dieser Konflikt ist in Baden-Württemberg aktuell ein großes Thema.“ Der Gemeindetag sieht den Bedarf an zusätzlichen Flächen unter anderem für den Wohnbau als akut und gegeben an. Eppingen gehe pragmatisch mit übergeordneten Stellen vor. „So können wir aktuell das Baugebiet Zylinderhof III als zusätzliches Wohngebiet entwickeln und immerhin 122 Wohneinheiten für rund 366 Menschen realisieren.“
"Wir brauchen ein grundlegendes Umdenken beim Bauen, wenn wir den Abwärtstrend im Wohnungsbau umkehren und den eklatanten Wohnungsmangel bekämpfen wollen", sagt Thomas Möller, Hauptgeschäftsführer der Bauwirtschaft Baden-Württemberg. Da der Bedarf enorm sei, brauche es in den Ballungsräumen und größeren Städten neue Baugebiete und Stadtteile. "Der Geschosswohnungsbau ist ein geeignetes Instrument für flächensparendes Bauen."
Kanzler Scholz sieht neben Preissteigerungen zwei Probleme
Olaf Scholz (SPD) ging beim Halbzeitcheck mit Stimme-Chefredakteur Uwe-Ralf Heer auf die Wohnungsnot ein, sprach dabei unter anderem über Sonderabschreibungen, um auch damit den Wohnungsbau anzukurbeln. Und der Bundeskanzler fragte: "Was ist unser Problem?" Die Zinsen seien nicht zu hoch, sie seien plötzlich gestiegen. Früher hätten Menschen mit neun und mehr Prozent Zinsen ihr Haus gebaut. Er sieht neben den Preissteigerungen zwei Probleme: Dazu gehört, dass es nicht genügend Bauland gebe. Man müsse auch mal das höhere Bauen gestatten. "Und für ganz Deutschland kann man sagen: Wir brauchen wahrscheinlich 20 neue Stadtteile in den meist gefragten Städten und Regionen. So wie in den 70er Jahren."