Rekordaustritte bei der katholischen Kirche
Missbrauchsfälle und Skandale verstärken den Trend. Auch die evangelische Kirche verliert Mitglieder. Der Heilbronner Dekan Roland Rossnagel beschreibt, wie er mit der Situation umgeht.

Im Zuge von Missbrauchsgutachten und steigenden Zahlen bei Taufen zum Trotz leben in Baden-Württemberg immer weniger Katholiken. Mit rund 1,714 Millionen Gläubigen Ende 2021 war die Diözese Rottenburg-Stuttgart zwar die drittgrößte in Deutschland nach Köln und Münster. Die Zahl der Kirchenaustritte lag nach Angaben von Montag aber mit 28.212 auf Rekordhoch. In der Erzdiözese Freiburg traten 2021 laut Mitteilung 30.043 Menschen aus der Kirche aus. 2020 seien es 19.665 gewesen. Etwa 1,710 Millionen Katholiken leben hier im viertgrößten Bistum Deutschlands. Die evangelischen Kirchen im Südwesten hatten im März ebenfalls von sinkenden Zahlen berichtet.
Bischof spricht von tiefer Krise
Die Austrittszahlen spiegeln aus Sicht des Rottenburger Bischofs Gebhard Fürst "die tiefe Krise wider, in der sich unsere Kirche nicht nur wegen des Missbrauchsskandals befindet". Dass Parteien, Verbände und Gewerkschaften seit Jahren massiv Mitglieder verlieren, "kann für uns als Kirche kein Trost sein - das tut einfach sehr, sehr weh!" Der Freiburger Erzbischof Stephan Burger erklärte: "Jeder einzelne Austritt schmerzt mich." In Zeiten von Krieg, Pandemie und globalen Krisen sei das Bedürfnis der Menschen nach Hoffnung, Orientierung und Halt so groß wie lange nicht mehr.
Auch bundesweit sind die Austrittszahlen auf Rekordniveau: Mit 359.338 Katholiken kehrten 2021 so viele wie nie ihrer Kirche den Rücken, wie die Deutsche Bischofskonferenz in Bonn mitteilte. Als wichtiger Grund wurden Versäumnisse und Fehler bei der Aufarbeitung der Fälle sexuellen Missbrauchs genannt. Auch die Diözese Rottenburg-Stuttgart, die schon 2003 eine unabhängig arbeitende Kommission einsetzte, sei für Probleme andernorts in Haftung genommen worden. "Klar ablesbar daran, dass nach Veröffentlichung der Missbrauchsgutachten in Köln und München 2021/2022 auch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Folgemonat die Austrittszahlen in die Höhe schnellten."
Die Kirchen betonten ihre Angebote als Träger von Kindertageseinrichtungen, Bildungswerken, Büchereien, Schulen des zweiten Bildungswegs und Fachschulen für Sozialpädagogik. Hunderttausende Ehrenamtliche engagierten sich für die Gesellschaft.
Der Mitgliederschwund beschäftigt auch die von Missbrauchsskandalen weniger betroffenen evangelischen Kirchen in Baden-Württemberg: Die Landeskirche in Württemberg verzeichnete Ende Dezember noch 1.869.199 Mitglieder, jene in Baden 1.062.742. Neben Kirchenaustritten sind Todesfälle Gründe für den Rückgang. Taufen, Eintritte und Wiederaufnahmen können dies nicht ausgleichen, auch wenn die Zahlen teilweise im Vergleich zu den Corona-Jahren hier wieder steigen.
Wie sich die Zahlen in der Region entwickelt haben
In der Region Heilbronn sieht es ähnlich aus, wobei die Zahl der Katholiken im Dekanat Hohenlohe 2021 relativ gering gesunken ist: von 28.072 auf 27.526, im Dekanat Heilbronn/Neckarsulm von 84.420 auf 81.974; vor 20 Jahren waren es hier allerdings noch fast 90.000.
"Die hohen Austrittszahlen werden die Institution weiter infrage stellen. Sie wird sich noch stärker als bisher auf ihren wesentlichen Kern besinnen müssen und darauf, wie sie selbst das Evangelium nach innen und nach außen lebt." Dies betont der Heilbronner Dekan Roland Rossnagel auf Stimme-Anfrage. Die Knackpunkte seien bekannt: Kontrolle der Macht, Frauen, Geschlechtlichkeit und Sexualität.
Trotz dieser drängenden innerkirchlichen Fragen und auch wenn die Bindung an die Kirche als Institution abnehme, betont Rossnagel: "Das Evangelium, die frohe Botschaft, bleibt nach wie vor wichtig für unsere Gesellschaft als Ganzes und für jeden Einzelnen." Aktuelle Herausforderungen in der Welt seien nur zu bewältigen, "wenn wir uns einschränken und aufeinander Rücksicht nehmen". Dazu könne die Kirche aus dem Evangelium heraus positive Impulse setzen, damit es nicht zu noch größeren sozialen Gegensätzen komme.
Gesprächsangebot an Ausgetretene
Rossnagel schreibe allen Ausgetretenen einen Brief, in dem er seinen Respekt vor ihrer Entscheidung bekunde und ein Gespräch anbiete. "Wenn es zu solchen Gesprächen kommt, sind sie meist sehr tief." Oft zeige sich, dass die Menschen noch nie Freude am Glauben erfahren hätten. Die Institution Kirche sei daran nicht unschuldig, "sie war zu sehr Behörde, sie steckt auch deshalb in der Krise", sie müsse "wieder näher bei den Menschen sein".