Öffnen und testen: Geht Neckarsulm den Tübinger Weg?
Neckarsulms OB Steffen Hertwig und andere Rathauschefs bewerben sich um das Tübinger Modell. Die Initiative ist ein Hoffnungsschimmer für Einzelhandel und Gastronomie.

Shoppen, einen Cappuccino auf der Café-Terrasse genießen, ins Kino gehen. Was den meisten Menschen derzeit versagt bleibt, ist in Tübingen durch das Modellprojekt "Öffnen mit Sicherheit" seit dem 16. März möglich. Die positiven Erfahrungen, die dort gemacht werden, wollen jetzt auch viele andere Städte für sich nutzen. Neckarsulm und Künzelsau gehören zu den ersten, die sich ans Sozialministerium gewandt haben, um das Tübinger Modell zu übernehmen. Oberbürgermeister Steffen Hertwig sieht Neckarsulm durch eine umfangreiche Test-Offensive, die bereits laufe und in kürzester Zeit umgesetzt worden sei, gut dafür gewappnet.
"Es ist ein lauter Hilfeschrei zur Rettung der Gastronomie und des Einzelhandels", sagt Hertwig im Gespräch mit der Heilbronner Stimme. Er habe große Sorge, dass die Neckarsulmer Innenstadt durch die Lockdown-Strategie der Regierung ausblute. Außerdem herrsche bei vielen Menschen großes Unverständnis über aktuelle Regeln. Warum dürfe zum Beispiel ein großer Supermarkt öffnen, in dem sich Hunderte Menschen tummeln, und ein kleiner Einzelhändler, der wenige Kunden gleichzeitig in seinem Laden hat, muss weiter schließen? "Das ist nicht mehr zu vermitteln", betont Hertwig. Der Oberbürgermeister ergreift, wie er sagt, auch deshalb die Initiative, weil er nicht wahrnehme, dass die "sehr ernsten Probleme vor Ort ausreichend erkannt werden".
Hoffnung auf schnelle Antwort
Allerdings könne er sich auch nicht über die Corona-Verordnungen hinwegsetzen und ein Schnelltes-Modell auf eigene Faust umsetzen. "Das muss vom Sozialministerium genehmigt werden". Er hoffe jetzt auf eine schnelle Antwort. Auf eine Zusage hofft auch der Neckarsulmer Gewerbeverein. "Wir begrüßen die Initiative. Der Wunsch nach Öffnung ist groß", sagt Vorsitzender Nikolas Härdtner. Die Aussicht auf eine Öffnungsstrategie sei für Einzelhändler ein Hoffnungsschimmer.
Wie die Chancen dafür stehen, sei aber völlig unklar, sagt OB Hertwig. Auch die Stadt Künzelsau wartet derzeit auf eine Antwort aus dem Sozialministerium. Auf Nachfrage heißt es von dort nur, dass weitere Modellversuche vorstellbar seien und dass zeitnah mit den Spitzen der Kommunalen Landesverbände darüber beraten werde.
Städtetag gegen Einzellösungen
Mehrheitliche Meinung im baden-württembergischen Städtetag ist, dass weitere Einzellösungen nicht sinnvoll sind, sondern dass es dazu einer landesweiten Regelung bedarf. Dahinter steht auch Heilbronns Oberbürgermeister Harry Mergel. Auf einen Antrag der CDU-Gemeinderatssfraktion, die das Tübinger Modell in Heilbronn umsetzen möchte, gab er zu bedenken, dass in Tübingen zunächst die Allgemeintauglichkeit getestet werden solle. Davon abgesehen sei ein Beitritt zum Tübinger Modell nicht möglich, da die Rahmenbedingungen in Heilbronn ganz andere seien. Die Verwaltung habe ein Öffnungsszenario für Handel, Gastronomie und Kultur entwickelt. "Die entsprechenden Pläne liegen fertig auf dem Tisch", teilt Mergel mit. Allerdings sei es unverantwortlich, das aktuelle Infektionsgeschehen dabei ganz außer Acht zu lassen. In der Stadt Heilbronn steigen die Zahlen derzeit wieder stark an.
Auch für Steffen Hertwig steht der Gesundheitsschutz an erster Stelle, sagt er. Dem stehe das Modellprojekt "Öffnen mit Sicherheit" aber nicht entgegen. Dass es zu unübersichtlich werden könnte, wenn viele Städte Einzellösungen umsetzen, glaubt er nicht. "Es ist ohnehin schon unübersichtlich". Allein in Stadt und Landkreis Heilbronn gelten unterschiedliche Regeln, stellt Hertwig fest. Er sehe es als Chance, wenn noch mehr Städte Erfahrungen mit dem Modell sammeln.
Großes Interesse in Eppingen und Bad Rappenau
Mit großem Interesse verfolgen die Großen Kreisstädte Eppingen und Bad Rappenau, wie es mit den Bewerbungen von Neckarsulm und anderen weitergeht. Sie haben derzeit nicht vor, sich ebenfalls an das Land zu wenden. "Ich habe aber eine große Sympathie für das Tübinger Modell", sagt Bad Rappenaus Rathauschef Sebastian Frei. Sollten sich die positiven Erfahrungen in Tübingen weiter bestätigen, müsse der Ansatz "im gesamten Land ermöglicht werden - auch in Eppingen", teilt Stadtsprecher Sönke Brenner mit.
Was ist das Tübinger Modell?
Lockdown? In Tübingen ist davon seit Dienstag, 16. März, nichts mehr zu spüren. Die Außengastronomie sowie Kunst- und Kultureinrichtungen wie Theater, Kinos und Bibliotheken sind wieder für den Publikumsverkehr offen. Zugangsvoraussetzung für alle ab 14 Jahren ist nach Angaben der Stadt ein sogenanntes Tübinger Tagesticket als Nachweis über einen negativen Corona-Schnelltest. Die Betriebe und Einrichtungen sind verpflichtet, die Einhaltung der Schnelltestpflicht zu überprüfen.
Das Land Baden-Württemberg hat diesem Modellprojekt zugestimmt, das die Universitätsstadt Tübingen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roten Kreuz im Landkreis Tübingen bis Ostermontag umsetzt. Das Universitätsklinikum übernimmt die wissenschaftliche Begleitung.
Die erweiterte Testpflicht gilt für alle, auch für die Einwohner des Landkreises Tübingen. Für die kostenlosen Schnelltests stehen mehrere Teststationen in der Innenstadt bereit.
Kommentar: Der Druck wächst
Geschäfte auf, Geschäfte zu. Harter Lockdown, weicher Lockdown. Osterruhe, keine Osterruhe. Die Menschen haben von der Zuschließ-Politik und dem ewigen Hin und Her die Nase voll. Dadurch wächst der Druck auf die Verantwortlichen vor Ort. Verständlich also, dass sich nun viele Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte auf das Tübinger Modell stürzen und besser gestern als morgen ihren Bürgern eine Öffnungsstrategie präsentieren möchten. Gut so! Denn wie das Beispiel Tübingen zeigt, geht nur durch Engagement im Kleinen entscheidend etwas voran. So wächst auch der Druck auf die Bundes- und Landesregierung, abweichende Strategien zum Lockdown-Kurs zuzulassen und ernsthaft zu prüfen.
Trotzdem gilt jetzt, nichts zu überstürzen. Es wäre fatal, wenn Kommunen sofort ins Blaue hinein mit einem eigenen Schnelltest-Modell beginnen. Mit das Beste am Tübinger Weg ist doch, dass es von Wissenschaftlern begleitet wird. Ihre ersten Erkenntnisse, die sie nach Ablauf des Modellzeitraums nach Ostern weitergeben können, sollten die Entscheidungsträger noch abwarten, bevor das Modell auf andere Städte und Gemeinden übertragen wird. Zu oft wurden in dieser Krise Entscheidungen gefühlt aus dem Bauch heraus getroffen, ohne sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu untermauern.




Stimme.de