Wie eine Familie aus der Region das Tübinger Pilotprojekt erlebt
Seit mehr als einer Woche läuft in Tübingen ein Schnelltest-Modell. Die Stadt will damit ausprobieren, wie den Menschen in der Corona-Pandemie mehr Freiheiten gegeben werden kann. Welche Erfahrungen eine Heilbronnerin und ihr Mann aus Ellhofen bislang gemacht haben.

Noch hat sie es nicht ausprobiert. Bislang war ihr das Wetter einfach zu kühl für einen Cappuccino im Außenbereich eines Tübinger Cafés, wie es das wissenschaftlich begleitete Pilotprojekt der Unistadt möglich macht. "Und es ist ja auch nicht so viel anders als ein Kaffee to go" überlegt Verena Caspari. Einerseits. Und andererseits? "Bekomme ich bestimmt Glücksgefühle, wenn diese Woche die Temperaturen hochgehen und ich mir das gönne."
Das Tübinger Tagesticket gibt es nach einem negativen Test an einer Teststation
Einerseits Wagnis, andererseits Chance. Die Skepsis, die 72 Prozent von 8000 befragten Tübingern in einer aktuellen Online-Umfrage geäußert hatten, schwingt auch bei der gebürtigen Heilbronnerin mit, die seit vielen Jahren mit ihrem Mann und den zwei Söhnen in der Fachwerkstadt lebt. Kino- und Theaterbesuche sind hier wie kaum irgendwo sonst in Deutschland derzeit erlaubt - Voraussetzung ist ein negativer Corona-Test an einer der neun Stationen vor Ort. Er befähigt zum Tübinger Tagesticket.
Die Tests sind seit ihrer Einführung kostenlos

Um den Menschen ein bisschen mehr Freiheit zu ermöglichen, dafür arbeitet ihr Mann Kilian Brucklacher freiwillig mehrmals die Woche an der DRK-Teststation am Marktplatz. Die Besonderheit: Dank des Engagements von Notärztin Lisa Federle sind die Tests seit Monaten kostenlos, auch wenn eine Spende begrüßt wird. Sie waren es schon, als sie in Heilbronner Praxen noch 50 Euro kosteten. Und sie sind seit ihrer Einführung völlig unkompliziert zu bekommen, ohne Voranmeldung, ohne Termin.
Testen gehörte auch am Tübinger Kepler-Gymnasium, an dem Lehrerin Verena Caspari unterrichtet, schon früher als anderswo zum Tagesgeschäft. Nach den Faschingsferien eingeführt, liegt die Testquote der Lehrer und Schüler, die derzeit in Präsenz sind, bei 90 Prozent.
Besucher wollen einen Hauch Normalität erleben
Auf dem Marktplatz hat sich indes Kilian Brucklachers Klientel verändert. Von Menschen, die ihre betagten Eltern besuchen und sichergehen wollten, sie nicht mit Corona anzustecken, hin zu Besuchern, die nach langem Stillstand mit dem begehrten Zettel einen Hauch Normalität erleben möchten. Auch von ihrem Chef geschickte Arbeitnehmer oder Beschäftigte im Einzelhandel sind darunter.
"Zum Start des Projekts war sehr viel los", erzählt er. "Die Leute waren dankbar, sie haben die Wartezeiten in Kauf genommen, die Spendenbereitschaft war groß." Gleichzeitig hat er festgestellt: "Mit den Tagestouristen kommt ein anderer Druck." Geduldig erläutert der 46-Jährige dann, dass auch Geimpfte das Prozedere durchlaufen müssen, weil sie unter Umständen trotzdem ansteckend sein können. Und dass das Tagesticket nur für das gestempelte Datum gilt, auch wenn ein Test für den Besuch von Pflegeheimen andernorts 48 Stunden Gültigkeit hat. Bis zu 650 Tests schafft das Team am Tag, manchmal vergehen bis zu fünf Tage bis zu einem positiven Fall.
Auch der psychologische Effekt ist wichtig
Wie er und seine Frau ihre Wahlheimat derzeit erleben? Kilian Brucklacher hat in Gesprächen den "psychologischen Effekt" bemerkt. "Es ist gut, wenn der Betreiber des kleinen Cafés das Gefühl hat, dass sich etwas bewegt, dass er wieder gebraucht wird."
Der Trubel der vergangenen Tage war der Familie zu viel. Sechs lange Warteschlangen nebeneinander vor den Kassen im Bekleidungsgeschäft, steigende Inzidenz von unter 30 auf jetzt 69 und ein Verkehrschaos im Städtchen: Für Verena Caspari ist das "ein bisschen ernüchternd". Dazu kommt: "Das Parken hier ist eine Katastrophe. Und wer den Bus nimmt, braucht dafür ja keinen negativen Test." Das Modell auf Tübinger Einwohner zu beschränken, hätte sie besser gefunden.
Die Idee biete viele Möglichkeiten für Kritik, findet auch ihr Mann. Doch ein Stück öffentliches Leben wieder zu ermöglichen, sei eine gute Sache. "Die Vorteile überwiegen." Zudem habe Tübingen Besonderheiten, die von Uni und Lehre geprägte Stadt sei überschaubar. Ganz unkompliziert übertragbar sei das Modell sicher nicht.




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