Heilbronner Richter kritisieren System: Verurteilte teils lange auf freiem Fuß
Zwei Richter aus Heilbronn sehen die Rechtsprechung in der Krise. Die Gerichte seien überstrapaziert mit Anträgen und Instanzen. Die Richter wollen das verändern – und kandidieren bei den Gemeinderatswahlen.

Eigentlich sollte die Strafe auf dem Fuße folgen, sind sich Alexander Lobmüller und Michael Reißer einig. Das stärke das Vertrauen in die Justiz, so die beiden Heilbronner Berufsrichter. Und auch der Angeklagte bringe das Urteil mit seiner Tat in Verbindung. Die Realität sehe aber anders aus, kritisieren die Juristen.
Das vorhandene Personal in den Gerichten und bei der Staatsanwaltschaft bekäme die Auswüchse in der Rechtsprechung kaum mehr in den Griff. Die beiden Richter wollen sich deshalb politisch engagieren und kandidieren in bei den Kommunalwahlen am 9. Juni.
Richter: Rechtssystem setzt ideale Bedingungen voraus – und büßt an Effizienz ein
"Unser Rechtssystem ist ganz hervorragend", sagt Lobmüller, Richter am Heilbronner Landgericht und Vorsitzender der Heilbronner Bezirksgruppe des deutschen Richterbundes. "Aber eben nur unter idealen Bedingungen", so der 50-Jährige.
Fristen, formale Auflagen, zahllose Anträge während der Prozesse und zu viele Instanzen seien Beispiele dafür, warum das Justizsystem an Effizienz einbüße, sind sich Reißer und Lobmüller im Gespräch mit unserer Zeitung einig. "Dabei sollte es um Recht und Wahrheit gehen", ergänzt Reißer, Richter am Heilbronner Amtsgericht.
Das Landgericht kennt kein beschleunigtes Verfahren
Beispiel: das beschleunigte Verfahren am Amtsgericht: Für die Richter "ist es nicht zu Ende gedacht". Zwar würde den Angeklagten schnell der Prozess gemacht. Nach dem Urteil hat der Beschuldigte aber gleich zwei Instanzen, die er anrufen kann. Mit der Berufung wird der Fall vor dem Landgericht verhandelt. Das Landgericht kennt kein beschleunigtes Verfahren. Der Berufungsprozess zieht sich in die Länge. Gegen das Landgerichtsurteil können die Verteidiger nochmals in Revision gehen.
Als Beispiel nennt Reißer das Urteil gegen die Klimaaktivisten der sogenannten letzten Generation, die sich in Heilbronn auf die Straße klebten. Sie wurden im März 2023 vom Amtsgericht zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt. Das Berufungsverfahren vor dem Landgericht hat aber noch nicht einmal begonnen.
"Die Bürger fragen sich, warum die Verurteilen noch auf freiem Fuß sind", so Lobmüller. "Und irgendwann ändern sich auch die Lebensrealitäten der Angeklagten." Ob die Strafe Jahre später noch sinnvoll sei, sei fraglich, so Lobmüller.
Fristen können Prozesse platzen lassen

Fristen seien ein weiteres Problem, so die Richter. Laut Strafprozessordnung darf eine Verhandlung maximal drei Wochen unterbrochen werden. Dauert die Pause einen Tag
länger, muss der Prozess neu aufgerollt werden. So geschehen beim Tequilaflaschen-Prozess vor dem Landgericht, bei dem der Angeklagte seine Freundin erschlagen hat. Nach mehrmonatiger Verhandlung wurde der Prozess im Juli 2022 abgebrochen, weil sich der Verteidiger am letzten Tag der Frist krankmeldete. Ende September 2022 fing der Prozess ganz von vorne an.
Lobmüller hat zuletzt im Wollhausraser-Prozess den Angeklagten wegen Mordes verurteilt. Die schriftliche Urteilsbegründung wird mehr als 100 Seiten betragen. Dabei müsse auf jede Formalie und jedes Wort geachtet werden, weil Revisionen schon stattgegeben wurden, wenn versehentlich eine Unterschrift an der falschen Stelle platziert worden sei. "Das ist vollkommener Wahnsinn", sagt Lobmüller.
Verteidiger legen mitunter Minenfelder für die Richter
Anwälte nutzten dies häufig, "um irrsinnig viele Beweisanträge zu stellen", so Lobmüller. "Verteidiger legen mitunter Minenfelder, um die herum sich Richter winden müssen." Dazu komme, dass ein Fall zum Prozessauftakt "nie ausermittelt ist". Die Kammer müsse dann selbst ermitteln, so der Richter.
"Dieses Trauerspiel kann ich mir nicht mehr anschauen", sagt Lobmüller. Die beiden Richter wollen sich deshalb politisch engagieren. "Um das Thema der Bevölkerung näher zu bingen", so Reißer. Und von den Bürgern unterstützt zu werden. "Das ist der Anfang von einem langen Weg", sagt Lobmüller. Denn ein funktionierender Rechtsstaat sei ein Pfeiler des Staatssystems.
Instanzen im Gerichtssystem
Gegen ein Amtsgerichtsurteil kann der Angeklagte in Berufung gehen. Ist er mit dem Berufungsurteil vom Landgericht nicht zufrieden, kann er Revision einlegen. Zuständig für die Revision sind die Oberlandesgerichte oder der Bundesgerichtshof. Dabei werden die Urteile anders als bei der Berufung nur auf Rechtsfehler geprüft. Neue Tatsachen oder eine eigene Beweiswürdigung nimmt das Revisionsgericht nicht vor. Die Heilbronner Richter Alexander Lobmüller und Michael Reißer sprechen sich dafür aus, dass auch gegen Urteile des Amtsgerichts nur noch eine Instanz angerufen werden kann.

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Kommentare
Günther Knapp am 04.05.2024 09:45 Uhr
Wer nimmt unseren Rechtsstaat eigentlich noch ernst? Es liegt selten an Gesetzen und Strafandrohungen sondern sicherlich auch daran, dass gerade bei Straftaten und mehrfachen Straftätern ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Straftätern und Polizei, sowie Justiz stattfinden kann. Rechtsanwälte haben das Recht, die Pflicht alle rechtliche Möglichkeiten für ihre Mandanten auszuschöpfen. Sie sollten dies aber nicht nur für ihre eigene Profilierung machen, vor allem dann wann sie sich in Medien einen Namen machen können. Große Reden verantwortlicher Politiker helfen nicht, Polizei und Justiz, auch beim Strafvollzug, sind sehr teuer. Hier sind Regierungen gefragt! Das Zusammenspiel zwischen Legislative, Judikative und Exkutive stimmt leider schon lange nicht mehr!