Stimme+
Interview
Hinzugefügt. Zur Merkliste Lesezeichen setzen

Gaffer, Corona-Pandemie und Co.: Welchen Herausforderungen Ersthelfer gegenüberstehen

   | 
Lesezeit  4 Min
Erfolgreich kopiert!

Jürgen Blind, Ersthelfer beim Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Heilbronn, spricht im Interview über Herausforderungen an Unfallorten, die zurückgehende Hilfsbereitschaft durch die Corona-Pandemie und seinen Wunsch von einer Defibrillatoren-Landkarte für die Region Heilbronn.

Jürgen Blind vom Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Heilbronn demonstriert die Anwendung eines Defibrillators.
Jürgen Blind vom Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Heilbronn demonstriert die Anwendung eines Defibrillators.  Foto: Seidel, Ralf

Seit fast 20 Jahren arbeitet Jürgen Blind beim Deutschen Roten Kreuz Kreisverband Heilbronn als Ersthelfer und Trainer. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der 49-Jährige über Herausforderungen an Unfallorten, die zurückgehende Hilfsbereitschaft durch die Corona-Pandemie und seinen Wunsch von einer Defibrillatoren-Landkarte für die Region Heilbronn.

 

Angenommen ein E-Auto brennt nach einem Unfall, was müssen Ersthelfer beachten?

Jürgen Blind: Normalerweise spricht sich der Einsatzleiter der Feuerwehr am Einsatzort sehr intensiv mit dem Notarzt ab. Und sowohl Feuerwehrleute als auch wir Rettungskräfte werden geschult, wie man mit den Fahrzeugen umgeht und die Menschen herausholt. Diese Schulungen laufen über die Landesfeuerwehrschule, die DRK-Landesschule oder andere Hilfsorganisationen. Haben wir eine Situation, wo Lebensgefahr besteht, hat man natürlich keine Zeit, lange zu planen, sondern muss eine Crash-Rettung machen, also unter Gefährdung der Einsatzkräfte und des Betroffenen eine schnelle Rettung durchführen. Wenn der Allgemeinzustand stabil ist, kann man etwas geplanter an die Sache herangehen.

 

Auf was muss besonders geachtet werden?

Blind: Wenn das Fahrzeug nicht stark deformiert ist und die stromführenden Teile dort sind, wo sie hingehören, dann kann man ran wie an jedes andere Fahrzeug auch. Ansonsten muss man aufpassen, weil die Gefahr eines Stromschlags besteht. Wir sagen grundsätzlich: Eigenschutz hat oberste Priorität. Es bringt nichts, wenn der Helfer selbst zu Schaden kommt und dem Verletzten nicht mehr helfen kann. Wenn man als Laie nicht abschätzen kann, ob es eine Gefahr gibt, dann sollte man einen Notruf betätigen und die Situation schildern. Das ist uns lieber, bevor jemand den Helden spielt und selbst noch zu Schaden kommt.

 

Was machen Sie, wenn sogenannte Gaffer am Unfallort sind?

Blind: Durch unsere Berufserfahrung haben wir gelernt, damit umzugehen. Der erste Schritt ist, deeskalierend zu arbeiten. Es ist wichtig, sich von diesem Stress, der von außen kommt, nicht anstecken zu lassen. Wir müssen uns auf unsere Arbeit konzentrieren.

 


Mehr zum Thema

Das Projekt-Trio Tatjana Hilker,  Joachim Bähr, Andreas Giel (v.l.) mit der Rucksack-Aussattung
Stimme+
Region
Lesezeichen setzen

50 Rucksäcke mit Equipment für 370 freiwillige Lebensretter


 

Haben Menschen, die zuschauen und den Zugang zum Unfallort im schlimmsten Fall verhindern, zugenommen?

Blind: Gaffer gab es eigentlich schon immer. Aber ich würde nicht sagen, dass es sehr viel mehr geworden sind. Es gibt immer Ausreißer-Situationen, in denen Alkohol eine Rolle spielt, wie bei Festen. Das Handy beispielsweise ist in solchen Situationen Fluch und Segen zugleich. Ein Segen für den schnellen Notruf, ein Fluch für den Persönlichkeitsschutz. Es werden Bilder gemacht von Menschen auf der Straße, die in Lebensgefahr schweben und schwer verletzt sind und in den sozialen Netzwerken geteilt.

 

Wie sieht es mit dem Thema Defibrillatoren aus?

Blind: Es gibt mittlerweile auch eine App namens „Defikataster“, die die Standpunkte anzeigt. Aber nur die Defibrillatoren, die dort gemeldet werden, sind dort zu sehen. Wir haben Wander,- Rad,- oder Sightseeing-Karten für die Stadt und den Landkreis Heilbronn. Toll wäre ein Dokument, in dem der Bürger sieht, wo es frei zugängliche Defibrillatoren gibt. Schulen, Rathäuser, Apotheken: Es gibt viele kommunale Einrichtungen und Firmen, die Defibrillatoren haben. Aber wenn sie zu sind, kommt man nicht ran. Wenn man als Bürger noch lange überlegen muss, wo man hinrennen muss, dann ist die Zeit vorbei. Und: Der Defibrillator allein führt nicht zum Erfolg, er ist nur eine von mehreren Komponenten, die zur Wiederbelebung gehört. Es ist also nicht nur wichtig, die Menschen zu informieren, wo sich die Geräte befinden, sondern sie auch in Wiederbelebungsmaßnahmen wie der Herz-Druck-Massage zu schulen.

 


Mehr zum Thema

Im Ernstfall kommt es auf jede Minute an − und auf eine fehlerfreie Alarmierung: Dass es hier manchmal Probleme gibt, räumt der Kreisbrandmeister ein.
Foto: Archiv/privat
Stimme+
Hohenlohe
Lesezeichen setzen

Warum Rettungskräfte im Hohenlohekreis manchmal ungewollt tatenlos bleiben müssen


 

Ist Deutschland in der Hinsicht gut dabei?

Blind: Andere europäische Länder sind ein Stück weit weiter als wir. Weil sie die Information, wo man einen Defibrillator findet, ganz anders publizieren. In Wien zum Beispiel findet man an jeder Straßenkreuzung oder öffentlichem Gebäude ein Schild mit einem Pfeil und dem Zeichen für Defibrillation (grünes Quadrat, weißes Herz mit Blitz drin). Es ist sogar angegeben, wie lange man laufen muss bis zum nächsten Defibrillator.

 

Apropos Aufklärung: In deutschen Schulen spielt Erste Hilfe keine sonderlich große Rolle, oder?

Blind: Sind wir mal ehrlich: Wir machen unseren Erste-Hilfe-Lehrgang zum Führerschein, hoffen, dass er schnell rumgeht, man muss ihn ja machen und dann soll das bis zum Lebensende halten. Der Gesetzgeber sagt, man soll helfen, aber wenn man dann nicht mehr weiß, wie eine stabile Seitenlage oder Reanimation geht oder noch nie was von einem Defibrillator gehört hat, dann wird es schwierig. In anderen Ländern, zum Beispiel in Skandinavien, ist es ganz normal, dass im Kindergarten oder in den Schulen von Erster Hilfe geredet wird. Dort sind diese Themen im Lehrplan integriert. Das Bewusstsein wird viel früher geschaffen. Wenn jemand immer wieder davon hört, dann wird das Thema zum Selbstläufer. Deswegen sind zwei Komponenten wichtig: Einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen und wissen, wo sich der Defibrillator befindet, dann können wir mehr Leben retten.

 

Was würden sie Menschen mit auf den Weg geben wollen, die Hemmungen haben, zu helfen, aus Angst etwas falsch zu machen?

Blind: Nichts zu tun, ist der größte Fehler. Man muss sich immer im Klaren sein, dass es auch mal um die eigenen Lieben gehen kann, Mann, Frau, Kind. Professionelle Helfer können schnell da sein, klar. Aber wenn in den ersten zehn Minuten nichts getan wird, dann kann der beste Notarzt keine Wunder vollbringen. Die Menschen denken immer, wenn sie helfen, kriegen sie im Nachhinein rechtliche Probleme. Sie können aber nur belangt werden, wenn sie nichts tun, das wäre die unterlassene Hilfeleistung. Ich sage immer: Wenn jemand überfordert ist mit der Situation, dann soll er den Notruf wählen. Die Rettungsleitstelle führt den Anrufer durch die Situation und arbeitet nach bestimmten Abfrage-Mustern. Sie macht mit dem Anrufer Telefon-Reanimation, oder erklärt die stabile Seitenlage und so weiter.

 


Mehr zum Thema

Könnte es im Winter wegen der Energiekrise zu einem Stromausfall kommen? Die Kommunen raten zu einer Bevorratung. Die Stimme-Redaktion gibt Tipps, wie man sich zu Hause auf einen möglichen Blackout vorbereitet.
Stimme+
Region
Lesezeichen setzen

Strom weg, Wasser knapp: Landkreis Heilbronn plant verschiedene Szenarien


 

Was hat sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie geändert?

Blind: Während Corona haben wir gemerkt, dass die Hilfsbereitschaft noch weniger geworden ist. Die Menschen haben gelernt, Abstand zu halten, Maske zu tragen, anderen Menschen nicht näherzukommen. Aber gerade in einer Notfall-Situation müssen sich Menschen näherkommen. Diese Distanzierung zu meinem Gegenüber hat dazu geführt, dass weniger geholfen wurde. Das war besorgniserregend. Es gab sicher Situationen, wo Menschen nicht überlebt haben, weil die Distanzierung zu keiner Ersten Hilfe geführt hat. Es gab auch Rückmeldungen von Teilnehmern aus den Kursen, dass sie im Notfall andere nicht mehr beatmen wollten. Es gab dann zeitweise die Einigung, dass erstmal nur drücken ausreicht. So wollten wir erreichen, dass zumindest irgendwas getan wird.


Mehr Informationen zu Erste-Hilfe-Kursen unter www.drk-heilbronn.de oder 07131 6236-0

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Neueste zuerst | Älteste zuerst | Beste Bewertung
Keine Kommentare gefunden
Nach oben  Nach oben