KI sagt Krankheitsrisiken für 20 Jahre voraus: Wie Heilbronner Experten urteilen
In Heidelberg wurde ein KI-System entwickelt, das Krankheitsrisiken berechnen soll. Zwei Fachleute aus Heilbronn bewerten das Modell unterschiedlich – mit klaren Positionen.
Kann Künstliche Intelligenz vorhersagen, welche Krankheiten ein Mensch in seinem Leben bekommt – und wann? Forschende unter Leitung des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (Embl) in Heidelberg haben ein System entwickelt, das genau das versucht. Das Modell trägt den Namen Delphi-2M.
Das Programm wertet Gesundheitsdaten aus und soll das Risiko für mehr als 1000 Erkrankungen berechnen können: von Herzinfarkt über Krebs bis hin zu psychischen Erkrankungen. Es kann laut den Forschenden zudem Prognosen für den Gesundheitszustand einzelner Menschen oder ganzer Bevölkerungsgruppen über einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren abgeben.

Kann Künstliche Intelligenz Krankheiten vorhersagen? Digitale Daten aus Großbritannien und Dänemark
Für die Entwicklung nutzten die Wissenschaftler Daten von 400.000 Menschen aus der britischen UK Biobank, darunter Angaben zu Diagnosen, Körpermaßen sowie zu Alkoholkonsum und Rauchen. Getestet wurde das Modell anschließend mit Daten aus Dänemark. Dabei zeigte sich: Bei Krankheiten mit klaren Verlaufsmustern, etwa bei bestimmten Krebsarten oder Herzleiden, liegen die Vorhersagen erstaunlich nah an der Realität. Bei psychischen Erkrankungen oder seltenen Leiden ist die Trefferquote dagegen deutlich geringer.
Noch sei Delphi-2M weit entfernt vom Einsatz im Krankenhaus, wie sie betonen. Das Modell müsse weiter verbessert werden – etwa durch zusätzliche Informationen wie Labor- oder Blutwerte. Zudem sei es bisher vor allem auf ältere und britische Bevölkerungsgruppen zugeschnitten. Fachleute sehen in dem Ansatz dennoch einen wichtigen Schritt. Sie hoffen, dass solche Modelle künftig helfen, Krankheitsrisiken früher zu erkennen, Zusammenhänge zwischen Leiden besser zu verstehen und Prävention gezielter zu gestalten. Zugleich warnen sie vor überzogenen Erwartungen und vor Missbrauch, etwa, wenn es um Versicherungsleistungen für Patienten mit schlechten Prognosen geht.
Heilbronner Experten bewerten Chancen und Risiken unterschiedlich
Wie schätzen zwei Heilbronner Experten das Potenzial und die möglichen Risiken der Anwendung ein? Professor Uwe Martens ist SLK-Krebsmediziner und arbeitet mit seinem Team am Heilbronner Molit-Institut seit 2016 mit großen Datenmengen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen helfen, die Behandlung Krebskranker in der Region zu verbessern.
Thomas Bornheim hat in Heilbronn einen Ableger der Programmierschule 42 aus Paris aufgebaut, jetzt etabliert er unter dem Dach der Schwarz-Gruppe mit Arkadia eine eigene Software-Schule. Beide Männer kooperieren immer wieder, erst kürzlich im Rahmen eines Seminars „Algorithmus trifft Expertise, KI in der modernen Krebsmedizin“ im Heilbronner Ipai. Ihre Beurteilungen von Chancen und Risiken von Modellen wie Delphi-2M fallen dennoch unterschiedlich aus.

Uwe Martens: „Was folgt aus der Vorhersage eines Krankheitsrisikos?“
Uwe Martens geht nicht davon aus, dass solche Anwendungen in absehbarer Zeit in Deutschland eingesetzt werden. Dagegen sprächen die strengen Zertifizierungsregeln für Medizinprodukte in Deutschland und auf EU-Ebene. Er stellt zudem die Frage: „Selbst wenn wir ein Erkrankungsrisiko voraussagen könnten – was folgt daraus?“
Bei bestimmten Mutationen wie BRCA, die das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs deutlich erhöhen, seien präventive Tests sinnvoll, weil sich dadurch frühzeitig operativ eingreifen lasse. Allerdings gebe es bereits zahlreiche Möglichkeiten der Vorsorge und Präventivmedizin. „Es wäre schon hilfreich, wenn mehr Menschen die bestehenden Vorsorgeuntersuchungen regelmäßig wahrnehmen würden.“ Darmkrebs, Prostatakrebs, Hauttumoren, Brustkrebs und andere Krebsarten ließen sich so früh erkennen und behandeln. „Das machen immer noch viel zu wenige – besonders Männer sind da nachlässig“, sagt Martens.
Zudem sei längst bekannt, dass der Lebensstil großen Einfluss auf die Gesundheit habe – etwa Rauchverzicht, maßvoller Alkoholkonsum, ausgewogene Ernährung, Bewegung und soziale Kontakte. „Das wissen wir alle – wir müssen es nur umsetzen.“ Auch verweist Martens darauf, dass jede Krankheitsgeschichte individuell sei. Ein festgestelltes Risiko sage noch wenig über den tatsächlichen Verlauf aus. Viele Einflussfaktoren seien unbekannt. So habe man etwa festgestellt, dass sich eine mRNA-Impfung gegen Covid positiv auf den Verlauf einer Krebserkrankung auswirken könne – das Warum werde noch erforscht.
Martens betont außerdem das Recht auf Nichtwissen. „Ich persönlich möchte nicht wissen, wie hoch mein Risiko für neurodegenerative Erkrankungen ist.“ Krankheiten wie Demenz ließen sich bisher nicht ursächlich behandeln, höchstens ihr Fortschreiten verlangsamen. „Was also tun mit der Erkenntnis eines erhöhten Risikos?“

Thomas Bornheim: „Solche Lösungen sind eine große Chance“
„Die Technik ist nicht das Problem, sondern unsere Denkweise über Medizin“, sagt Thomas Bornheim. Für ihn steht fest, dass KI-basierte Anwendungen künftig eine immer größere Rolle spielen werden – als Werkzeuge, die Menschen helfen, ihre Gesundheitskompetenz zu stärken und bei medizinischen Fragen erste Orientierung bieten. Das sei dringend nötig: „Unsere Versorgungsstrukturen brechen zusammen. Wir brauchen solche Lösungen, sie sind eine große Chance.“
Es sei höchste Zeit, das in Deutschland anzuerkennen, statt jede Form der Digitalisierung reflexhaft abzulehnen. „Wir sind nach wie vor ein digitales Entwicklungsland, wollen das aber nicht wahrhaben. Unser Selbstbild muss sich ändern, damit Deutschland auch wirtschaftlich wieder vorankommt.“
Fortschritt sei ohne Risiko nicht möglich, betont Bornheim. Neue Technologien aus Sorge vor ethischen Fragen grundsätzlich abzulehnen, sei der falsche Weg. „Risiken kann man durch klare Regeln beherrschbar machen.“ Auch das sogenannte „Recht auf Nichtwissen“ hält er für kein stichhaltiges Argument. „Das kann leicht zur Ausrede für Bequemlichkeit werden.“
Gesundheitsvorsorge liege in der Eigenverantwortung jedes Einzelnen, schädliche Verhaltensweisen müssten zudem politisch stärker sanktioniert werden. „Jeder weiß, wie gefährlich Rauchen ist, also müsste eine Zigarettenschachtel eigentlich 30 Euro kosten.“
Mit Blick auf die Medizin bedeute das für ihn: „KI ist ein Diagnoseinstrument, das Zusammenhänge sichtbar macht. Es liegt an uns, als Gesellschaft und als Individuen, die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.“ Zugleich müsse man lernen, mit dem Wissen über mögliche Risiken verantwortungsvoll umzugehen. „Es geht um Befähigung“, sagt Bornheim. Sein Plädoyer: „Wir müssen ins Handeln kommen und Verantwortung übernehmen, auch für unsere eigene Gesundheit. KI kann helfen, unseren Blick zu schärfen.“
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