Strafverfolger klagen: Verurteilte Straftäter aus Platzmangel wieder auf freiem Fuß
Weiterhin werden in Baden-Württemberg zahlreiche Verurteilte aus der Haft in die Freiheit entlassen, weil Therapieplätze fehlen - auch im Zuständigkeitsbereich der Heilbronner Staatsanwaltschaft.

Es kam, wie es kommen musste: In den vergangenen Monaten sind in Baden-Württemberg auch weiterhin eine ganze Reihe verurteilter Straftäter vorzeitig aus der Haft entlassen worden, weil es keine Therapieplätze im Maßregelvollzug für sie gegeben hat. Und da sie nicht zu einer reinen Haftstrafe in einer Justizvollzugsanstalt verurteilt worden waren, sondern zu einer Therapie in einer geschlossenen Einrichtung aufgrund einer mutmaßlichen Suchtabhängigkeit, boxen sie ihre Anwälte regelmäßig aus dem Gefängnis heraus - zum Entsetzen auch von Ermittlern.
Begründung für Entlassungen: Kein Platz
Nach Angaben des Landesjustizministeriums haben im Jahr 2021 baden-württembergische Gerichte bei 35 Verurteilten die Fortdauer der Organisationshaft für unzulässig erklärt. Der Begriff bezeichnet die Zeit im Gefängnis nach Verurteilung bis zum Antritt der Therapie im Maßregelvollzug. In allen Fällen sei die Begründung für die Entlassungen gewesen, dass "im erforderlichen Zeitrahmen keine Kapazitäten im hiesigen Maßregelvollzug zur Verfügung standen".
Auch in Heilbronn sind verurteilte Straftäter nach kurzer Zeit bereits wieder aus dem Gefängnis
Drei dieser 35 Betroffenen seien 2021 nicht auf freien Fuß gekommen, sagt Ministeriumssprecher Gunter Carra. Sie seien zusätzlich wegen weiterer Delikte in Haft gewesen. Für das Jahr 2022 liegen laut Carra bereits 17 richterliche Entscheidungen vor, in denen die Fortdauer der Organisationshaft aufgrund eines Mangels an Therapieplätzen für unzulässig erklärt wurde. Auch hier: "Drei Betroffene kamen nicht auf freien Fuß, weil noch Strafhaft in anderer Sache zu vollstrecken war." In drei Verfahren habe zudem eine Staatsanwaltschaft jeweils die Entlassung des Verurteilten angeordnet. Die Aufnahme im Maßregelvollzug habe nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden können.
Auch im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaft Heilbronn sind verurteilte Straftäter nach kurzer Zeit bereits wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Entsprechende Informationen der Heilbronner Stimme bestätigt die Behörde auf Nachfrage. Demnach handelt es sich um fünf Fälle. Die verhängten Freiheitsstrafen betragen von zwei Jahren und zwei Monaten bis zu fünf Jahren und neun Monaten.
Gesetze müssen geändert werden
Nach Angaben von Pressestaatsanwältin Mareike Hafendörfer seien darunter Kriminelle, die wegen Drogendelikten verurteilt wurden. "In einem Fall wurde wegen schweren Raubes eine Freiheitsstrafe von vier Jahren, in einem weiteren Fall wegen gefährlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verhängt", teilt sie schriftlich mit. Die fünf Fälle beziehen sich auf den Zeitraum zwischen November 2021 und April 2022.
Die Gesetzgebung müsste dringend verändert werden, heißt es aus Kreisen der Strafverfolgungsbehörden. Obwohl Reformen mehrmals von der Politik angekündigt worden sind, "hat sich aber nichts verändert in den vergangenen beiden Jahren", sagt ein Insider. "Therapieplätze gibt es keine beziehungsweise viel zu wenige." Die Gerichte sprächen immer noch viel zu viele Verurteilungen nach dem sogenannten 64er-Paragrafen aus. Dieser sieht vor, dass Menschen, die kriminelle Taten im Zusammenhang mit einer Suchtproblematik verübt haben, zu einer Therapie im Maßregelvollzug verurteilt werden.
Verurteilte in Freiheit tauchen schnell unter
Das Interesse des Gesetzgebers, etwas zu ändern, sei gering. "Stattdessen ist es doch viel einfacher, mehr Plätze im Maßregelvollzug zu fordern." Dabei sei ein überwiegender Teil der Verurteilten überhaupt nicht willig, eine Therapie zu machen. Landgerichte, spätestens Oberlandesgerichte, "lassen inzwischen nahezu alle, die einen Antrag auf Entlassung wegen einer überlangen Organisationshaft stellen, in Freiheit".
Diese schnell zurückgewonnene Freiheit würde von deutschen Verurteilten dann sogleich genutzt, um unterzutauchen - während ausländische Verurteilte gerne die Gelegenheit ergriffen, Deutschland zu verlassen. "Freiwillig antreten und sich im Maßregelvollzug stellen, macht so gut wie keiner", berichtet der Insider weiter.
Genau das müssten sie aber theoretisch. Verurteilte Straftäter, die auf gerichtliche Anordnung aus der Organisationshaft entlassen wurden, haben sich laut Landessozialministerium selbst in die Klinik zu begeben, sobald ihnen nachträglich ein Therapieplatz zugewiesen wird. Sprecher Florian Mader teilt dazu lediglich mit: "Eine landesweite Statistik, wie häufig die Betreffenden nicht termingerecht erscheinen, gibt es nicht." Bei Nichterscheinen werde jedoch in jedem Einzelfall eine polizeiliche Fahndung veranlasst.
Bis April 2022 warteten noch 82 Menschen in Organisationshaft auf einen Therapieplatz
Dass in den nächsten Monaten weiterhin Straftäter vorzeitig ohne Therapie aus der Haft entlassen werden, liegt auf der Hand. Die gerichtlichen Zuweisungen in die Unterbringung von Verurteilten nach Paragraf 64 bewegen sich nach Angaben des Sozialministeriums weiterhin auf hohem Niveau. Bis April 2022 warteten nach Informationen des Ministeriums noch 82 Menschen in Organisationshaft auf einen Therapieplatz in den Zentren für Psychiatrie.
"Die Kliniken sind überlastet, und zunehmend sind offenbar auch Personen untergebracht, die in der Entziehungsanstalt gar nicht richtig aufgehoben sind", teilte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bereits im Januar mit. Sie behinderten zum Teil den Therapieverlauf der wirklich behandlungsbedürftigen Personen. Aus dem baden-württembergischen Sozialministerium heißt es, man sei über die Reformbemühungen des Justizministers sehr erfreut. Ein Gesetzesentwurf zur Umsetzung soll "zeitnah" vorliegen.
Jörg Kinzig aus Tübingen ist Experte zum Thema Maßregelrecht. Er ist Professor für Strafrecht und Direktor des Instituts für Kriminologie der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Den Gesetzesvorschlag der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reformierung des 64er Paragrafen sieht er vom zentralen Anliegen getragen, den seit vielen Jahren zu beobachtenden Anstieg der Zahlen im Maßregelvollzug zu bremsen. Es sei für ihn gut nachvollziehbar, dass versucht werde, die Unterbringung nach Paragraf 64 wieder stärker auf Verurteilte zu konzentrieren, die tatsächlich einer Suchtbehandlung bedürfen.
Mehr empirische Forschung nötig
Ein Problem sei sicher, dass der umstrittene Paragraf zwischen zwei Zuständigkeiten angesiedelt ist - dem Sozial- und dem Justizministerium -, "was das Zeigen auf die Versäumnisse des jeweils anderen begünstigt". Jörg Kinzig wirbt für mehr empirische Forschung. Unbefriedigend seien die im Vergleich zu anderen stationären Unterbringungsformen hohen Rückfallraten nach Entlassung aus der Entziehungsanstalt.
Der Insider aus den Strafverfolgungsbehörden, der mit unserer Zeitung im Gespräch ist, kritisiert die politischen Abläufe. "Alle Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg haben das gleiche Problem." Auch Sozialminister Manne Lucha könne nicht zaubern "und er kann gar nicht so viele neue Therapieplätze schaffen, dass sie jemals ausreichen würden". Es sei eine Art Vogel-Strauß-Politik und offenbar praktisch, wenn verurteilte Straftäter untertauchten oder freiwillig zurück ins Ausland gingen. "Man benötigt keinen Platz mehr und sie verursachen keine Haftkosten. Motto: Augen zu, dann sieht man es nicht."
Nach Ansicht von Frank Schwörer, leitender Oberstaatsanwalt in Heilbronn, spiegelt die Vielzahl von richterlichen Anordnungen zur Unterbringung in Entziehungsanstalten eine allgemeine Zunahme von Suchterkrankungen wieder. Schwörer sieht das Sozialministerium mit einem Ausbau von Therapieplätzen in der Pflicht. Es müssten aber auch die Rechtsvorschriften auf den Prüfstand, die der Anordnung zur Unterbringung zugrunde liegen.
Ziel sollte sein, "nur noch wirklich therapiefähige und -willige Täter zu erreichen", so Schwörer. Außerdem sei zu überlegen, die Regelungen bei der Vorwegvollstreckung einer Haftstrafe vor der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anzupassen. Konkret geht es Schwörer um das Thema Aussetzung der Reststrafe - in der reinen Strafvollstreckung ist eine Entlassung in der Regel erst nach zwei Dritteln der Haftzeit möglich, im Zusammenhang mit einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gelten andere und für Straftäter vorteilhaftere Berechnungsgrundlagen.




Stimme.de