Kretschmann über schrittweise Lockerungen und mögliche Nachfolger
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident und Spitzenkandidat der Grünen für die Landtagswahl, ruft die Bürger in der Corona-Pandemie weiter zum Durchhalten auf. „Das Virus ist unser Feind. Und der ist raffiniert und verschlagen“, mahnt der 72-Jährige am Dienstagabend beim Stimme-Wahlcheck unter der Pyramide der Kreissparkasse Heilbronn.
„Interessiert die Leute etwas außer Corona?“, fragt Kretschmann lächelnd, nachdem er gegenüber von Stimme-Chefredakteur und Moderator Uwe Ralf Heer Platz genommen hat. „Nein, es überlagert fast alles.“ Kretschmann nickt zustimmend, offenbar bereit, sein Corona-Management in den nächsten 90 Minuten zu verteidigen.
Eine Entourage aus Personenschützern, Polizei und Sanitätern macht deutlich, dass bei diesem Stimme-Wahlcheck unter der Pyramide der Kreissparkasse Heilbronn nicht nur ein Spitzenkandidat sondern auch Baden-Württembergs Ministerpräsident zu Gast ist. In der Vorbereitung war das Gebäude auf Sprengstoff untersucht worden.
Seit zehn Jahren regiert der Mann aus Spaichingen das Land. Und er stellt klar, dass er nicht vor hat, daran etwas zu ändern: „Ich kämpfe dafür, dass wir noch mal die Regierung führen können.“ Auch in seinem Wahlkreis Nürtingen, wo er 2016 rund 35 Prozent der Stimmen holte, will er wieder an die Spitze: „Ich möchte schon das Direktmandat wieder holen, das ist klar“, gibt er zu. „Ich setze mir aber keine Zielmarken für etwas, das ich nicht selber machen kann“, ergänzt er. „Da muss man sich überraschen lassen.“
Kretschmann: „Nachfolger war in der Regel Fraktionsvorsitzender“
Dennoch lässt sich der Ministerpräsident ausnahmsweise auf Spekulationen über seine Nachfolge ein: „Das zweitwichtigste Amt hinter dem Ministerpräsidenten ist das des Fraktionsvorsitzenden einer Regierungspartei.“ In seinem Fall sei das der 40-Jährige Andreas Schwarz. „Und ohne den läuft mal gar nichts“, sagt Kretschmann. Die meisten Ministerpräsidenten im Land seien vormals Fraktionsvorsitzende gewesen.
In der Tat gilt das neben Kretschmann auch für seine beiden Vorgänger Stefan Mappus und Günther Oettinger, beide führten vor ihrer Zeit als Regierungschef die CDU-Fraktion im Stuttgarter Landtag. Allerdings wolle er sich in die Frage seiner Nachfolge nicht einmischen, betont Kretschmann: „Den Nachfolger bestimmt man nur in einer Monarchie, nicht in einer Demokratie.“
Kretschmann ruft Bürger in der Corona-Pandemie zum Durchhalten auf
Die Bürger ruft Kretschmann in der Corona-Pandemie weiter zum Durchhalten auf. „Das Virus ist unser Feind. Und der ist raffiniert und verschlagen“, mahnt der 72-Jährige. Der Kopf müsse über die Gefühle herrschen, auch wenn es ermüdend sei. „Das geht uns allen auf den Zeiger.“
Dass viele die Corona-Maßnahmen Leid sind, kann Kretschmann, der selbst gerne im Schützenverein, im Kirchenchor oder während der Fasnacht unterwegs ist, verstehen. „Das geht ja an die ganze Geselligkeit, für viele Unternehmen geht’s an die Existenz, die Künstler können sich nicht entfalten. Das sind ja schon krasse Dinge.“ Er sei froh, dass die Bevölkerung sich „sehr diszipliniert“ an die Regeln hält.
Es gelte, bei Öffnungen und Lockerungen von Maßnahmen vorsichtig zu sein, um Virus-Mutationen in Schach zu halten. Man dürfe „nicht zu schnell und nicht zu breit auf einmal öffnen“. Das Virus könne man durch Disziplin bezwingen, betont Kretschmann, bis es genug Impfungen für alle gibt. „Dann packen wir das, davon bin ich überzeugt.“ Er gehe davon aus, dass das Impfen spätestens im zweiten Quartal „hochlaufen“ werde. Der momentane Mangel an Impfstoff sei durch nichts zu ändern.
Die Auswirkungen der Lockerungen auf das Infektionsgeschehen müssten genau beobachtet werden, stellt der 72-Jährige klar. Ausgangssperren seien fast überall zurückgenommen, Kitas und Grundschulen seien zum Teil wieder offen und erste Geschäfte geöffnet. „Das ist nicht wenig. Das erzeugt zusätzliche Kontakte.“ Eine dritte Welle müsse „auf jeden Fall“ verhindert werden. „Deswegen: Nicht zu schnell und nicht zu breit öffnen. Das haben wir bei den Österreichern gesehen, das führt zu Rückschlägen.“
Schulöffnung zeigt, dass Pläne nicht immer funktionieren
Er sei „Anhänger des Auf-Sicht-Fahrens“, erklärt Kretschmann seine Strategie. „Ein Plan, den man aufstellt und dauernd korrigieren muss, ist keiner mehr.“ Deshalb fokussiere er sich immer auf den nächsten Schritt und deute den übernächsten an.
Dass das nicht immer funktioniert, habe man an der Öffnung der Kitas und Schulen gesehen: „Zehn Minuten, bevor ich das mit der Kultusministerin verkünden wollte, kam die Information, dass Mutanten sich ausgerechnet in einer Kita in Freiburg ausgebreitet hatten. Deshalb mussten wir das stoppen.“
Nächste Lockerungen sollen für den Einzelhandel gelten
Bei dauerhaft niedrigen Inzidenzzahlen könne man mit Bedacht stufenweise öffnen. Der nächste Schritt seien Einzelhandelsgeschäfte, für sie könne man klare Regeln schaffen und diese überprüfen. Das sei wichtig, denn „die gehen ja wirklich am Stock“, so Kretschmann. Restaurants seien „noch einen Schritt später“ dran.
Kretschmann unterstreicht die Bedeutung der Inzidenzraten. „Das ist die einzige handfeste Zahl, die wir haben.“ Wichtig sei darüber hinaus die Belegung der Intensivbetten. Das Vermeiden von Kontakten sei die erste Säule der Virusbekämpfung, das Nachverfolgen von Infektionsketten die zweite. Bei einer Inzidenz von mehr als 50 könnten Gesundheitsämter die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehen. „Nur wenn ich die runterbekomme, haben wir die Kontrolle über die Pandemie“, erklärt Kretschmann. Bei der zweiten Welle seien die Zahlen so hoch gewesen, dass nur die „radikale Kontaktreduzierung“ geblieben sei.
Mehrfach spricht Kretschmann über den Freiheitsbegriff. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“, schrieb einst die deutsche Philosophin Hannah Arendt. Kretschmann hat sie zu seiner Lieblingsphilosophin erklärt. „Vielleicht ist das das Schöne an der Pandemie: Wir merken mal, wie großartig die Freiheit ist.“ Jeder merke, was es bedeute, wenn sie eingeschränkt ist. „Wenn uns der Wert dieser Freiheit wieder bewusst wird, durch ihre Einschränkung, dann hat auch die Pandemie ihren Sinn gehabt.“
Nach Krebserkrankung: Seine Frau ist zuversichtlich
Für Aufsehen sorgte Anfang Februar die Nachricht, dass Kretschmanns Frau Gerlinde an Brustkrebs erkrankt ist. „Wie geht es ihr?“, fragt Heer. „Ja, wie geht’s einem, wenn man eine Krebsdiagnose hat? Das ist eine heimtückische Krankheit und die belastet jeden, der sie hat“, sagt Kretschmann. Die Operation sei gut verlaufen. „Sie ist zuversichtlich und darüber bin ich auch froh.“
Die Erkrankung seiner Frau könne er nicht ausblenden, erzählt der 72-Jährige. „Das ist schon eine Herausforderung. Die Krise bewältigen im Wahlkampf und das Familiäre. Sie braucht mich natürlich auch mehr, ich muss jetzt auch mal unter der Woche heim.“
Mehr Tempo bei Klimaschutz, Digitalisierung, Transformation der Autodindustrie
Beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung und bei der Transformation der Automobilindustrie müsse das Land an Tempo zulegen. „Der Klimawandel lässt uns keine Zeit“, sagt Kretschmann. „Die 20er Jahre sind die Dekade der Entscheidung.“ Die Fridays for Future hätten richtige Ziele, es brauche jedoch Mehrheiten, die dahinterstehen. Ihm schweben mehr Strategiedialoge mit beteiligten Unternehmen, Kommunen und Akteuren vor, wie es sie schon mit der Autoindustrie gibt.
„Welches Projekt soll man mit Ihnen assoziieren?“, will die 18-jährige Lisa Ulrich aus Bad Wimpfen wissen. „Ich glaube, wir haben das beste Biodiversitätsgesetz der ganzen Republik aufgestellt“, antwortet Kretschmann. Außerdem wäre es ihm „nicht unrecht“, wenn man mit seinem Namen den ersten Nationalpark des Landes im Schwarzwald verbinde.
Gibt es ein Ideal der Grünen, das er in zehn Jahren Regierung opfern musste, will Moderator Heer von Kretschmann wissen. „Kein einziges“, versichert der. Eines fällt ihm aber doch ein: „Bevor ich Ministerpräsident wurde, bin ich ganz selten geflogen. Das kann man an einer Hand abzählen.“
Neue Regierung in Baden-Württemberg dürfe nicht „alle Monate eine Krise“ haben
Wie sich die Corona-Krise auf das Wahlergebnis auswirkt, will Kretschmann nicht abschätzen. „Ich gehe mit großer Demut auf den Wahltermin zu.“ Den Umfragen traue er „in diesen Zeiten nicht besonders“.
„Mir ist ganz wichtig: Das Land muss verlässlich regiert werden“, erklärt er auf die Frage nach einer möglichen Regierungskoalition. Er habe das in einer grün-roten und in einer grün-schwarzen Regierung gezeigt. Es brauche keine Regierung, in der es „alle Monate eine Krise gibt“. Außerdem müsse eine gewisse Dynamik entstehen.
Er sei kein Fan, Wahlprogramme penibel miteinander zu vergleichen. „Wir brauchen jetzt Dynamik im Transformationsprozess, wir brauchen Dynamik beim Klimaschutz. Und das muss man erreichen in einer Koalition, das ist ihr Prüfstein.“ In Koalitionen gebe es immer Streit und Inhalte, bei denen man sich nicht einig wird. „Das ist auch gut so, sonst wissen die Leute zum Schluss nicht mehr, worin man sich unterscheidet.“
Mit der SPD war das Regieren auch nicht immer harmonisch, sagt Kretschmann
„Man muss nicht so tun, als sei mit den Sozialdemokraten immer alles so harmonisch gewesen“, verweist Kretschmann auf die Zeit der grün-roten Regierung und Signale des SPD-Fraktionsvorsitzenden Andreas Stoch beim Wahlcheck in der vergangenen Woche.
„Gestritten wird in Koalitionen immer.“ Wichtig sei, dass man zivilisiert streite und Streit die Regierung nicht zerbrechen lässt. „Ich kann ja als Ministerpräsident auch meine schwarzen Minister nicht öffentlich kritisieren“, erklärt Kretschmann. „Das kann ein Regierungschef nicht machen, der muss nämlich den Laden zusammenhalten. Das heißt nicht, dass im Hintergrund nicht auch mal mit harten Bandagen gefochten wird.“ Er sei zuversichtlich, dass die neue Regierung bis Mitte Mai steht.