Heilbronn
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Ein Blick in die Pathologie

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Totenstille, Fäulnisgeruch, Gänsehaut. Ein Mann alleine mit einer aufgeschlitzten Leiche. Die Pathologie, ein Ort des Grauens? Unsere Volontäre zeigen, was dort unten tatsächlich passiert.

Das Projekt "Heilbronn von unten" ist vollständig zu sehen auf www.hnxvu.de. Es zeigt die Stadt aus neuen Perspektiven. Die Stimme-Volontäre werfen einen Blick unter die Gully-Deckel, steigen ab in die Keller und Schächte. In der Heilbronner Stimme und auf stimme.de erscheinen in einer Serie die Printtexte zu "Heilbronn von unten".

 

 

Ein gar nicht so gruseliger Krankenhauskeller from hnxvu on Vimeo.

 

Ein gar nicht so gruseliger Krankenhauskeller

Ein altbekannter Popsong dudelt aus dem kleinen, schwarzen Radio auf der Fensterbank. "It"s Another Manic Monday" von The Bangles, ein 80er-Jahre-Klassiker. Mitarbeiter in weißen Arbeitskitteln unterhalten sich, scherzen. Sonnenstrahlen erhellen den Raum im Souterrain. Nein, Gänsehaut bekommt man in diesem Krankenhauskeller nicht.

Es ist ein gewöhnlicher Arbeitstag im Pathologischen Institut des Heilbronner SLK-Klinikums am Gesundbrunnen. Auf einem Metalltisch stehen kleine Fläschchen mit knalligen Tuschefarben, daneben mehrere Pinsel, Scheren und Messer. Zwei Männer in Arbeitskitteln sitzen sich gegenüber, ihre Köpfe sind gesenkt. Etwas, das vor ihnen auf einem Plastikbrett liegt, nimmt ihre volle Konzentration ein. Gewandt packen sie es an, schneiden hinein. Dann eine markante Stelle. Man bespricht sich, prüft gemeinsam, macht Notizen. Für den Laien sieht es wie ein grobes, unbekanntes Stück Fleisch aus. Für den Pathologen ist es eine Brust, eine Lunge oder eine Darmwand mit einer ganz bestimmten Art von Tumor, den es bis auf den Mikrometer zu untersuchen gilt.

Falsches Bild

Es ist ein einseitiges, nicht selten falsches Berufsbild des Pathologen, das Kriminalfilme und -romane seit jeher verbreiten: Er schneidet Mordleichen auf, um die Todesursache zu klären. Die Realität im Berufsalltag sieht vollkommen anders aus. 90 Prozent seiner Arbeitszeit verbringt Professor Frank Autschbach, Leiter des Pathologischen Instituts, am Mikroskop. In den allermeisten Fällen geht es dabei um Diagnosen für lebende Patienten. An einem Tag sind es etwa hundert. Obduktionen kommen mit 30 bis 50 Fällen im Jahr vergleichsweise selten vor. Dies liege laut Autschbach mitunter daran, dass Pathologen in Deutschland die Angehörigen vor einer Obduktion fragen − im internationalen Vergleich eine ungewöhnliche Praxis. "Die meisten Angehörigen antworten mit Nein", sagt der 54-Jährige.

Sobald ein Verdacht auf einen nicht natürlichen Tod bestehe, "ist das Baustelle Gerichtsmedizin." Häufig würden die zwei Fächer auch durch einen Übersetzungsfehler durcheinander gebracht: Im Englischen lautet die Berufsbezeichnung des Rechtsmediziners "forensic pathologist", kurz "pathologist".

Die Glocke neben der Eingangstüre läutet. Ein Mitarbeiter eilt zur sogenannten Materialabgabe. Mit einem weißen Plastikeimer in der Hand kehrt er zurück. Klingelt es zwei Mal, geht er einen Schritt schneller. Dann liegt der Patient in einer Operation und benötigt eine sofortige Diagnose. Im viertelstündigen Schnellverfahren geschieht dann, was normalerweise mindestens zwei Tage lang dauert.

Oberarzt Dr. Hans-Georg Panitz nimmt den Deckel des weißen Plastikeimers ab. Mit beherztem Griff holt er eine Brust heraus. Dann greift er nach Pinsel und Tusche. Mit vier Farben markiert er, wo am Organ oben, unten, rechts und links ist. Später schneidet Panitz mehrere fingerdicke Schnitte in das weiche, kugelförmige Stück Fleisch. Die Hautschicht, mit der das Fleisch auf dem Plastikbrett aufliegt, hält den Fächer zusammen. Panitz" Blick sucht nach den Rändern des Tumors: Dort sieht er, ob das erkrankte Gewebe abschließt oder noch weitergeht. "In letzterem Fall muss man nachoperieren", sagt er und zieht die Augenbrauen hoch.

Entscheidungen

Ganze Organe oder kleine Proben: Vor, während und nach einer Operation trifft der Pathologe zentrale Entscheidungen. Ist ein Eingriff wirklich nötig? Wurde der Tumor vollständig entfernt? Wie geht die Therapie weiter? "All das lässt sich an der Struktur des Gewebes ablesen", sagt Autschbach. Neben Tumoren seien Untersuchungen auch zum Beispiel für Abstriche, entfernte Leberflecke oder Blinddärme nötig. "Unsere Aufgabe ist, herauszufinden, ob sich ein Verdacht bestätigt oder was letztendlich vorliegt. Wir stellen die rechtsverbindliche Diagnose."

Das Gewebe auf den Plastikbrettern glibbert nicht. Es riecht nicht. "Es ist nicht mehr so, wie es aus dem Körper kam, nicht ganz frisch", sagt Autschbach. Die natürliche Fäulnis sei gestoppt, das Gewebe ein wenig härter. Nur wer nahe herangeht, riecht das Giftgas, mit dem das Gewebe behandelt wird: Formaldehyd. Ein Luftabzug unter den Arbeitstischen saugt es nach unten ab.

Was Oberarzt Panitz für entscheidende Stellen im Gewebe hält, legt er in daumengroße Plastikkapseln. In Rosa, Blau, Grün und Gelb trifft man sie von Raum zu Raum wieder. Über Nacht werden die Gewebeproben entwässert und zu Kunststoffblöcken gegossen. Nur auf diese Weise wird Gewebe hart genug, dass sich hauchdünne Scheiben abschneiden lassen. Diese kommen per Objektträger unters Mikroskop.

Schönheit

Autschbach blinzelt, rückt den Objektträger zurecht. In tausendfacher Vergrößerung zeigt sich die Schönheit des Bösen: Wie von Kinderhand gekritzelte Blüten in Pink und Lila erscheinen die Tumorzellen. Verglichen mit den gesunden Zellen, sind sie dichter, dunkler und weniger geordnet. 15 Jahre Facharzterfahrung blicken mit Autschbach durch das Mikroskop. Dass mit seinem Wimpernschlag eine Entscheidung fällt, die einen anderen Menschen aus der Lebensbahn werfen kann, ist für den 53-Jährigen völlige Routine. Zumindest meistens. "Natürlich gibt es auch Fälle, die dramatisch sind, bei denen man persönlich mitlebt", sagt er mit ruhiger Stimme. Insbesondere bei schwierigen Befunden, und die gebe es jeden Tag, sei man sich selbst auch vielleicht unsicher. "Hat man die richtige Diagnose gestellt? Diese Frage beschäftigt schon."

Nicht selten komme es dabei zu Überraschungen. "Relativ häufig entsprechen die Befunde nicht dem, was der Operateur erwartet. Da gibt es ein gewisses Spannungsfeld." Auch deshalb läuft in der Pathologie nichts im Alleingang. Viele Fälle werden von mehreren Ärzten beurteilt. "Wir sind ständig am Hin- und Herlaufen, guck mal hier, mach mal da", sagt Autschbach.

Mehrere hundert Leichen hat der Fachmann in seiner bisherigen Laufbahn geöffnet. Am Anfang als Assistenzarzt sei das "wirklich eine Hemmschwelle" gewesen. Abgeschreckt habe ihn diese Seite der pathologischen Tätigkeit aber nie. "Der Arztberuf hat unabhängig der Fachrichtung mit Leid, mit schlimmen Sachen zu tun. Und ist eben oft auch eklig." Die Arbeit mit Präparaten sowie am Mikroskop findet er trotzdem ästhetisch, "auf eine gewisse Art und Weise."

Ego

Wenn Autschbach von seiner Arbeit erzählt, spricht er in einem sanften, überlegten Ton. Seine Kollegen grüßt er höflich mit Nachnamen. Zuviel Ego, das sei des Pathologen größter Feind, sagt er. Eine Obduktion gehe man niemals leichtfertig an. "Denn da geht"s ja um das letzte Wort, das zu einem Verstorbenen gesprochenen wird", sagt er.

Stattdessen sei Selbstkritik geboten. "Man darf nicht denken: Ich bin der Held, ich mach das jetzt", sagt der 54-Jährige. Daran erinnern auch Merksprüche am schwarzen Brett im Flur. "Misstraue dir!", steht dort auf einem Papier. "Der Kliniker, nicht der Pathologe, hat erst einmal immer Recht", auf einem anderen. Daneben hängt ein gelber Notizzettel. Er ist von Hand beschriftet: "Bitte abends die Instrumente ins Desinfektionsbad legen." Unterschrieben ist der Satz mit zwei Smileys.

 

Alle Print-Beiträge der Serie "Heilbronn von unten":

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Manche Kellertreppen führen an magische Orte. Statt auf Gerümpel trifft man auf Kobolde, Guiness-Bier, Folk - und landet in einem privaten Pub.

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