Sport-Union Neckarsulm: Wie lange geht das noch gut?
Die Sport-Union verliert am elften Bundesliga-Spieltag mit 23:32 gegen Bayer Leverkusen und rutscht auf den Relegationsrang ab. Neckarsulms Vorstandschef Rolf Härdtner kündigt Gespräche an, Trainerin Tanja Logvin möchte an ihrer Linie festhalten.

Bernhard Bauer war mit seiner Meinung sicherlich nicht alleine. "Ich hätte gedacht, dass es eher auf Augenhöhe ist", sagte der ehemalige DHB-Präsident und sprach damit bereits zur Halbzeit aus, was wohl viele Zuschauer in der Ballei nach 30 gespielten Minuten umtrieb. 11:17 stand es zu diesem Zeitpunkt, am Ende waren aus minus sechs sogar minus neun geworden: Statt einem (kleinen) Befreiungsschlag wurde das von der Handball Bundesliga Frauen (HBF) als Top-Spiel deklarierte Duell mit Bayer Leverkusen für die Sport-Union Neckarsulm die nächste "Katastrophe", wie Trainerin Tanja Logvin es nannte.
Aus Sicht der Trainerin war es - gerade angesichts des jüngsten Aufwärtstrends - nicht nur ein herber Rückschlag, sondern auch das schlechteste Sport-Union-Spiel der Saison - und das will im Angesicht der bisherigen Auftritte und Ergebnisse durchaus etwas heißen. Durch die Niederlage und den gleichzeitigen Sieg von Sachsen Zwickau gegen die TuS Metzingen rutschten die Unterländerinnen zum Jahresauftakt auf den Relegationsrang ab. Vorstand und Trainerteam würden sich wohl im Laufe der Woche erneut zusammensetzen müssen, sagte Neckarsulms Vorstandschef Rolf Härdtner kurz nach der Partie.
Druck vor Zwickau-Spiel steigt weiter
"Wir brauchen nicht auf die Tabelle zu schauen, die Situation ist jetzt so, dass wir von Spiel zu Spiel schauen müssen", sagte Tanja Logvin. Am nächsten Samstag kommt es in Zwickau zum Duell der Tabellennachbarn, in dem die Sport-Union nun unter noch größerem Zugzwang steht. Von Europapokal-Handball ist längst keine Rede mehr. Nachdem sich die Mannschaft vor der Saison darauf geeinigt hatte, (zumindest öffentlich) erst nach den Weihnachtstagen ein Saisonziel zu formulieren, kann das Vorhaben spätestens jetzt nur noch lauten: Klassenerhalt. "Man spricht von Zielen...; ich weiß nicht, wer dann daraus internationale Plätze interpretiert hat", sagte Logvin. "Aber gut, jemand hat das gesagt, und dann ist das gesagt", gab sich die 48-Jährige etwas kryptisch. Es klang alles auch etwas nach Selbstschutz, was die Österreicherin zu Protokoll gab.
Leuchters Einzelbewachung verunsichert Neckarsulm
Ihre Spielerinnen waren zunächst gut in die Partie gekommen, hatten sich dann aber noch vor der Halbzeitsirene zwei längere lethargische Schwächephasen mit teils unerklärlichen technischen Fehlern erlaubt, die die Leverkusener Gäste ihrerseits dankend angenommen und ausgenutzt hatten. Vor allem in diesen Phasen war nichts mehr zu sehen vom Selbstvertrauen, dass man sich im Jahresendspurt 2022 mühsam erarbeitet zu haben schien. "Ich kann das nicht erklären, ich weiß nicht, was da los war. Wir haben ohne Tempo gespielt und Missverständnisse zwischen den Spielerinnen gehabt. Diese schwankenden Leistungen passen mir auch nicht", sagte Logvin deutlich.
Auch die extrem jungen "Werkselfen" ließen es in eigenem Ballbesitz eher gemächlich angehen, fanden aber immer wieder Lücken in der zu passiven Neckarsulmer Deckung, in der Nina Engel und Sharon Nooitmeer zeitweise den Innenblock bildeten. Auch sonst hatte sich Logvin einiges Neues einfallen lassen: Linksaußen Lin Johannsen, die eine ordentliche erste Hälfte spielte, war bei Leverkusener Ballbesitz bald als persönliche Bewacherin von Viola Leuchter abgestellt und verfolgte die erfolgreichste Feldtorschützin der Liga teilweise bis zur Mittellinie. Das nahm die 18-Jährige zwar weitgehend aus dem Spiel, brachte ihren Teamkolleginnen Naina Klein und Mariana Ferreira Lopes allerdings gegen fünf Neckarsulmerinnen auch mehr Platz im Angriff.
Klein und Ferreira Lopes nutzten diese Freiräume immer wieder aus, trafen selbst aus eigentlich aussichtslosen Positionen und brachten die Gäste schließlich mit 15:9 (25.) in Führung. Ohne Sarah Wachter und Valentyna Salamakha im Neckarsulmer Tor hätte der Rückstand gar noch höher ausfallen können. So verpuffte der taktische Kniff mit Johannsen letztlich ergebnislos, wart nach der Pause nicht mehr gesehen und Leuchter stand am Ende mit zehn Toren und einer Trefferquote von nahezu 91 Prozent in den Statistik-Büchern. "Wir haben das in der Halbzeit besprochen. Die Spielerinnen fühlten sich damit unsicher und ich gehe natürlich auf den Wunsch der Spielerinnen ein", entgegnete Logvin auf die Frage nach dem Ende der Einzelbewachung.
Aktionismus oder Strategie?
Anders als in den vergangenen Wochen setzte die Sport-Union-Trainerin gegen die Rheinländerinnen auch relativ früh auf die Dienste ihrer Ersatzspielerinnen. Nichts wollte sie unversucht lassen. Doch das Gesamtkonstrukt war zu schwach, als dass die Gruppe eine zuletzt wenig geforderte einzelne Spielerin hätte mitziehen oder aufbauen können. Und dass eine einzelne Akteurin durch ihre Hereinnahme gar den Spielvortrag des Kollektivs nachhaltig befruchtet, scheint dieser Tage ohnehin illusorisch.
Einzig Carmen Moser konnte mit vier Treffern aus dem linken Rückraum ein wenig Werbung in eigener Sache machen. "Sie hat es heute ganz gut gemacht", lobte Logvin betonte aber auch, dass nicht möglicherweise überlastete Spielerinnen der Grund für die schwache Leistung gewesen seien: "Wir haben wegen unserer eigenen technischen Fehler den Kopf verloren."
Leverkusen lässt austrudeln
Offensiv waren einige gute Ideen sichtbar, doch vieles blieb Stückwerk und noch mehr war unter dem Strich einfach nicht gut genug zu Ende gespielt. Zwei Szenen schienen den Neckarsulmer Hoffnungen endgültig den Garaus gemacht zu haben: Zunächst ließ sich die Sport-Union vier Sekunden vor dem Pausenpfiff kollektiv überrumpeln, als Ferreira Lopes nach einer Auszeit ihres Trainers Johan Petersson ungehindert durch die Neckarsulmer Abwehr geleitet wurde und das Spielgerät noch per Aufsetzer zum 17:11 einnetzen durfte.
Danach war als zweite Szene die 40. Minute sinnbildlich, in der Amber Verbraeken ganz allein auf das Gäste-Tor zulief, aber einfach nicht wach und umsichtig genug war und das Spielgerät im letzten Moment doch noch von Mareike Thomaier abgenommen bekam. Danach plätscherte das Top-Spiel in seinen letzten 20 Minuten dem Ende entgegen. Leverkusen entschleunigte das Spiel noch stärker, Neckarsulm war trotz Umstellung auf eine 5:1-Abwehr die meiste Zeit mehr Passagier statt Pilot.
Böse Erinnerungen werden wach
Am Ende glichen die Bilder dann denen der gespenstischen Dezember-Auftritte gegen Oldenburg, Blomberg-Lippe und Buxtehude: Sport-Union-Vorstandschef Rolf Härdtner war konsterniert, Trainerin Tanja Logvin konnte sich das Auftreten ihrer Mannschaft einmal mehr nicht erklären und bei den blau gekleideten Spielerinnen waren weit und breit Ungläubigkeit, Verzweiflung und Enttäuschung zu vernehmen.

Carmen Moser konnte es kaum glauben, als sie vom Zwickauer Sieg gegen Metzingen und dem damit verbundenen Abrutschen auf Tabellenplatz 13 erfuhr. Fatos Kücükyildiz, die nun bis zum Ende der Spielzeit dauerhaft als neue Spielführerin fungiert, saß noch Minuten nach Spielschluss neben dem Feld - die Arme auf und den Kopf zwischen den Knien vergraben - und ließ ihren Tränen, vom Aufwärm-Pullover verborgen, freien Lauf. Andere klatschten apathisch in Richtung der Fans.
Längst gibt es eine Trainerfrage - aber auch eine Trainerdiskussion?
Wie es weitergeht - für die Mannschaft, die Trainerin und den Verein - entscheidet sich wohl im Laufe der Woche. "Das muss man in aller Ruhe überlegen, ich werde nie mehr einen Schnellschuss machen - in keine Richtung", sagte der Vorstandvorsitzende Rolf Härdtner am Abend und bat um Verständnis, dass er sich zu so kurz nach dem Spiel nicht zum weiteren Vorgehen äußern wollte. "Wir müssen einfach mal gemeinsam überlegen, was ist richtig und was ist falsch." Im Dezember hatten die Vorstände der Sport-Union die Spiele gegen Leverkusen und Zwickau zumindest intern als richtungsweisend ausgerufen. Nun zeigen Stimmungsbarometer und die tabellarische Entwicklung eher gen Süden als gen Norden.
Kein Bekenntnis, aber auch keine Kurzschlussreaktion
Längst sind in Neckarsulm die Rufe nach einem Wechsel auf der Trainerposition zu vernehmen. Inzwischen auch nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand. Auch Tanja Logvin weiß das. Die offensichtlichste aller Fragen - ob, wann oder in welcher Konstellation sich die Wege von Verein und Trainerin trennen könnten - vermochte jedoch niemand zu beantworten. Auf der anderen Seite blieb auch ein klares Bekenntnis zur Trainerin aus. "Es ist alles ganz schwierig momentan. Es gibt zu viele rund um den Verein, die sich über die Niederlage freuen", hatte Rolf Härdtner lauter werdende Misstöne im Neckarsulmer Handball-Kosmos erkannt. Die vielen Fehler im eigenen Spiel seien aber auch für ihn nicht zu erklären, gab er zu. Ihn nahm der neuerliche sportliche Rückschlag spürbar mit.
Ob am Samstag in der Ballei eine Mannschaft gegen ihre Trainerin gespielt hatte? Man mochte es eigentlich keiner der Akteurinnen unterstellen. Doch weil niemand rund um die Sport-Union so recht erklären konnte oder zu wissen glaubte, wie sich die Neun-Tore-Niederlage und ihre Deutlichkeit erklären ließen, schwirrte auch diese Frage nach Spielschluss durch die Neckarsulmer Halle.
Trainerin Tanja Logvin gab sich hingegen weiter entschlossen: "Ich habe meine Philosophie und die werde ich durchziehen bis..." Mehr sagte die Österreicherin nicht. Bis der Erfolg zurückkehrt? Bis zum Saisonende? Bis zum Spiel gegen Zwickau? Bis Mitte der Woche? Diese Fragen blieben am Samstagabend allesamt unbeantwortet. Fortsetzung folgt.
Sport-Union Neckarsulm: Polácková (4 Paraden), Salamakha (5 Paraden), Wachter (6 Paraden); Bruggeman, Engel (4), Gautschi (3), Gomilar Zickero (2), Ihlefeldt (1), Johannsen (3), Kücükyildiz, Mann (1), Moser (4), Nooitmeer (3), Smits (2), Verbraeken.
Erfolgreichste Werferinnen Bayer 04 Leverkusen: Viola Leuchter (10/4 Tore), Mariana Ferreira Lopes (6).
Schiedsrichter: Thomas Hörath/Timo Hofmann.
Siebenmeter: Sport-Union Neckarsulm: 0/0; Bayer 04 Leverkusen: 4/5.
Zeitstrafen: 3/1.
Zuschauer: 1.018.
Nebenberuf: Hallen-DJane
Seit dem Heimspiel gegen die HSG Bensheim/Auerbach im Dezember können die Neckarsulmer Spielerinnen die musikalische Untermalung während des Aufwärmens vor dem Spiel selbst bestimmen. Vor jedem Heimspiel dürfe eine andere Spielerin die Musikauswahl zusammenstellen, wie Sascha Göttler - bei der Sport-Union unter anderem für die Spieltagsorganisation verantwortlich - erklärt.
Zum Auftakt gegen Bensheim/Auerbach war Kreisläuferin Sharon Nooitmeer für die "Warm-Up-Playlist" verantwortlich gewesen, gegen den Thüringer HC hatte sich dann die weiterhin verletzte Olga Gorshenina als Kuratorin versucht. Gegen Leverkusen übernahm nun Lin Johannsen diese Aufgabe. Der elektronisch geprägten Musikauswahl ihrer Vorgängerinnen blieb die 20-jährige Dänin zwar treu, verhalf mit Avicii (Schweden), Martin Tungevaag (Norwegen) Tobias Rahim und Carpark North (Dänemark), aber auch einigen Künstlern aus ihrer Heimat und anderen skandinavischen Ländern zu einem akustischen Gastspiel in der Ballei. Rückenwind verlieh Johannsen die eigene Musikauswahl dann allerdings nur in den ersten 30 Spielminuten.