HBF-Vorstandschef Andreas Thiel: "Mit einer Million Euro können Sie ordentlich mitspielen"
Die Handball Bundesliga Frauen steht vor richtungsweisenden Reformen. Für den HBF-Vorstandsvorsitzenden Andreas Thiel sind neue Wege im Frauen-Handball unumgänglich. Im Interview erklärt er außerdem die große Wichtigkeit der Nationalmannschaft.

Rauskommen aus der Nische, das ist seit einigen Jahren das große Ziel des deutschen Frauen-Handballs. Der Deutsche Handballbund (DHB) und die Handball Bundesliga Frauen (HBF) sind vor allem in den beiden höchsten Spielklassen um ein einheitliches Erscheinungsbild und einen höheren Professionalisierungsgrad bemüht. Das verlangt den an vielen Stellen ehrenamtlich geführten Vereinen einiges ab, doch neue Strukturen und ein reformiertes Ligasystem sollen die Grundlage für eine erfolgreiche Heim-Weltmeisterschaft 2025 schaffen.
Andreas Thiel begleitet diesen Prozess als Vorstandsvorsitzender der HBF in führender Position. Im Interview spricht er über die Herausforderungen der Umstrukturierungen, über den Spagat zwischen Tradition und Geld sowie über die große Bedeutung der Nationalmannschaft für den gesamten deutschen Frauen-Handball.
Herr Thiel, die Hinrunde der HBF neigt sich ihrem Ende entgegen. Während die SG BBM Bietigheim einmal mehr an der Spitze steht, ist es im Tabellenkeller spannender als zuletzt - nicht nur wegen der verschärften Abstiegsregelung, sondern auch, weil kein Team völlig chancenlos ist. Wie blicken Sie auf die erste Saisonhälfte?
Andreas Thiel: Wie Sie sagen, konzentriert sich die Spannung eher auf unten als auf oben. Oben ist es mit Bietigheim aus Spannungssicht - das wird Gerrit Winnen (Sportdirektor der SG BBM Bietigheim, Anm. d. Red.) zwar ungern hören - eigentlich wieder "Business as usual", weil Bietigheim aufgrund des mit Abstand größten Etats die besten Voraussetzungen hat. Alles andere als eine Titelverteidigung ist daher tatsächlich nicht realistisch; das wird so kommen. Unten ist es in diesem Jahr aber durchaus spannend und ich glaube, da kann sich bis hinauf zu Oldenburg auf Platz sieben keiner absolut sicher fühlen. Das ist spannend und das bleibt auch spannend.
Die Zuschauer-Zahlen in den Bundesliga-Hallen sind von Standort zu Standort höchst unterschiedlich. Dennoch hat man das Gefühl, Frauen-Handball ist in der jüngeren Vergangenheit etwas mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Sieht man diesen Trend auch bei der HBF?
Thiel: Das mag bei Ihnen in Baden-Württemberg so sein. Hier in Nordrhein-Westfalen, im Großraum Köln/Leverkusen, ist das nicht der Fall. Das war aber immer schon so, weil der Südwesten eine Schwerpunkt-Region für den Frauen-Handball in Deutschland ist. Bundesweit mögen Regionen, in denen der Handball die führende Spielsportart ist - da denke ich etwa an Blomberg oder Buxtehude, auch an Oldenburg -, tatsächlich ein größeres Maß an Aufmerksamkeit generieren, aber wie das insgesamt in der Liga aussieht, vermag ich nicht zu sagen. Ich glaube nicht, dass sich da zuletzt relativ viel getan hat.
Wie könnte sich das ändern?
Thiel: Dass die Qualifikation für Olympia im April gelingt, wird extrem wichtig sein, um dann bei den Olympischen Spielen auch im Öffentlich-Rechtlichen präsent zu sein. Und wenn Deutschlands Frauen dann ein gutes olympisches Turnier spielen sollten, also mindestens das Viertelfinale erreichen, und danach mit Engagement und heldenhaft ausscheiden, dann ist das okay. Aber das will ich erst einmal sehen. Und wenn wir in der auf Olympia folgenden Saison mit Playoffs starten und die Bundesliga mit der Zwölfer-Staffel eine etwas höhere Wettkampfdichte entwickelt, dann haben wir vielleicht die Chance, Blicke auf eine Randsportart zu richten.
Die von Ihnen angesprochenen - und favorisierten - Playoffs sind Teil des Grundlagenvertrags zwischen der HBF und ihren Vereinen sowie dem DHB, mit dem der Frauen-Handball professionalisiert werden soll. Großes Thema ist immer wieder das künftig für die Erstliga-Lizenz notwendige Mindestbudget von 500.000 Euro. Wird das für die Vereine zum Problem?
Thiel: Man muss das einmal ganz klar sagen: Mit diesen 500.000 Euro ist ein Verein eigentlich nur eingeschränkt wettbewerbsfähig. Das ist keine riesen Hürde und das darf für einen Erstligisten auch keine riesen Hürde sein. Wenn dieser Betrag eine Hürde darstellt, dann muss man so ehrlich mit sich selbst sein und sagen: Dann kann ich Bundesliga-Handball hier an meinem Standort nun einmal nicht abbilden.
Das klingt hart.
Thiel: Wenn man sich einmal Folgendes vor Augen führt: Von den 500.000 Euro sollten annähernd 100.000 in eine Geschäftsstelle fließen. 50.000 fließen, und das ist noch wenig, als Arbeitgeberbrutto in einen Trainer - ganz sicher nicht in Bietigheim, aber bei vielen anderen (lacht). Dann werden noch Beiträge für die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft von 50.000 fällig, so dass am Ende 300.000 Euro für einen 16er-Kader übrigbleiben. Das ist im Durchschnitt ein Arbeitgeberbrutto von unter 20.000 Euro - das sind prekäre Gehälter.
Dennoch wird es für einige Vereine ein Kraftakt werden. Wie viel Geld braucht es denn, um in der Liga eine gute Rolle spielen zu können?
Thiel: Ich habe natürlich auch einen Janus-Kopf: Einerseits als Abteilungsleiter in Leverkusen, andererseits als Boss der Liga. Aber bei der Beispielrechnung habe ich noch gar nicht über die Kosten für den Spielbetrieb gesprochen. Elf Auswärtsspiele mit den Busfahrten kosten 20.000 bis 25.000 Euro und Heimspiele kosten mittlerweile mit dem Verlegen des Bodens, mit Livestream und Kommentator auch jeweils 2000 bis 3000 Euro. Daher sind 500.000 Euro tatsächlich das unterste Minimum. Der Durchschnittsetat eines Erstligisten bewegt sich bei zirka einer Million Euro. Wenn Sie den haben, können Sie als Verein ordentlich mitspielen.
Neben dem Geld kommen noch weitere Hürden auf die Vereine zu.
Thiel: Die eigentlich wichtigste Auflage ist ab 2025 die Halle mit zwei Längstribünen und einer Mindeskapazität von 1500 Zuschauern. Das bedeutet für einige Mannschaften gegebenenfalls den Umzug in eine Ausweichhalle. Zu diesem Thema gibt es zwei Fraktionen in der Liga. Die eine sagt: Das müssen wir genau so machen, sonst kommen wir nicht weiter. Und die anderen sagen, das sei alles viel zu viel, so viel Geld sei nicht im Kessel und es würden durch diese Vorgaben Traditionsstandorte kaputt gemacht.
Welche Position vertreten Sie?
Thiel: Ich gestehe gerne ein, dass ich für die zweite Meinung ganz persönlich - als Andreas Thiel, nicht als Vorsitzender der HBF - durchaus Sympathien habe. Aber die Beschlusslage ist eine andere, die Mehrheit der Vereine hat das so entschieden.
Von der "Hallen-Problematik" wäre auch Liga-Primus Bietigheim mit seiner Viadukt-Sporthalle betroffen gewesen. Nun zieht der Verein zur nächsten Saison nach Ludwigsburg um. Ist das nicht ein Warnsignal, dass es für viele, finanziell nicht so stabile Vereine, angesichts der gestiegenen Anforderungen in der Bundesliga eng werden könnte?
Thiel: Bietigheim hätte auch problemlos weiterhin nach Ludwigsburg ausweichen können. Das kostet aber nun einmal Geld. Daher haben sie jetzt das gemacht, was man macht, wenn man infrastrukturelle Rahmenbedingungen benötigt, die man vor Ort selbst nicht darstellen kann, und was Spielordnung und Regelwerk der HBF zulassen: eine Spielgemeinschaft gegründet und das Spielklassenrecht für die erste Liga mit in diese SG eingebracht. Das ist alles legal und mit der HBF abgestimmt.
Schadet der Umzug der Liga und ihrer Außendarstellung?
Thiel: Klar hat die SG BBM Bietigheim international einen Namen. Aber ich glaube, dass jeder erst einmal auf die Qualität der Mannschaft schaut und nicht auf den Namen.
Ein weiterer Reformpunkt betrifft den HBF-Supercup. Der wird am 31. August erstmals in einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem HBL-Supercup der Männer in Düsseldorf ausgetragen. Was verspricht sich die HBF davon?
Thiel: Würde sich die HBF deutlich näher an der HBL andocken, wäre das für den Frauen-Handball nur vorteilhaft. Die HBL hat mittlerweile eine hochprofessionelle Geschäftsstelle mit außergewöhnlich motivierten, jungen Mitarbeitern und mit Frank Bohmann (Geschäftsführer der HBL, Anm. d. Red.) und vielen anderen die Gewähr, tatsächlich - und machen wir uns nichts vor, darauf läuft es hinaus - relativ viel Geld zu generieren. Deswegen ist dieser gemeinsame Supercup ein erster Schritt in die richtige Richtung. Außerdem kann es auch für die zu gewinnende Aufmerksamkeit für den Frauen-Handball nur von Vorteil sein.
Besteht nicht die Gefahr, dass die Frauen zum Anhängsel der Männer-Veranstaltung werden?
Thiel: Nein. Wir hatten ja bislang immer schon ein Problem, überhaupt einen Ausrichter zu finden, der den Supercup in der Vorbereitung organisiert und veranstaltet. Wir mussten sogar zwischenzeitlich in den Durchführungsbestimmungen festhalten, dass im Zweifel der Deutsche Meister verpflichtet ist, den Supercup durchzuführen. Die Veranstaltung war also nicht wirklich beliebt. Natürlich werden die Frauen das Vorspiel machen. Und wenn man das jetzt böse als "Anhängsel" bezeichnen möchte, dann kann man das tun. Aber wenn man es wohlwollend bezeichnet, heißt es "Hurra, wir sind dabei!"
Nicht weniger wichtig für die Liga ist die Situation der Frauen-Nationalmannschaft. Die hat als Sechster der vergangenen Weltmeisterschaft zwar nicht das erträumte Halbfinale erreicht, aber ganz beachtlich gespielt.
Thiel: Nein, hat sie nicht!
Hat sie nicht?
Thiel: Ein solches Turnier beginnt bei den Frauen erst so richtig mit dem ersten K.o.-Spiel. Und da haben wir nicht nur nicht "performt", wie es auf Neusprech so schön heißt, sondern da haben wir versagt. Das muss man auch mal klar so benennen: Wenn ich in ein Viertelfinale mit 0:7 starte, dann war da irgendetwas nicht in Ordnung.
Einerseits stand im Kader der vier WM-Halbfinalisten mit der Schwedin Sofia Hvenfelt aus Bietigheim nur eine Bundesliga-Spielerin. Andererseits hat sich die HBF durch die guten internationalen Resultate ihrer Vereine in der Drei-Jahres-Wertung der European League auf Platz zwei verbessert und entsendet damit in der nächsten Saison vier Teilnehmer in den zweitwichtigsten internationalen Vereinswettbewerb. Wo steht die Liga also im internationalen Vergleich?
Thiel: Ich mache das zunächst einmal an den wirtschaftlichen Bedingungen fest: Unsere Mitglieder in der HBF versuchen vor Ort nach Kräften Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. Das fällt jenen, die wie Blomberg oder Buxtehude alleine in ihrem Umfeld sind, sicherlich leichter als Vereinen wie Leverkusen, die hier im Großraum zum Beispiel mit den Kölner Haien und den ganzen Fußball-Vereinen konkurrieren müssen - und doch eigentlich nicht wirklich konkurrieren, sondern irgendwo am Rande mitlaufen. Gleichwohl versuchen alle, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen selbst herzustellen.
Davon kann in Osteuropa oder Frankreich nicht die Rede sein.

Thiel: Richtig, das ist in Ungarn und Frankreich gänzlich anders; da zahlt Vater Staat Kohle ohne Ende. Dass es dann natürlich leichter fällt, (spielerische) Qualität einzukaufen, ist offensichtlich. Daher werden beim internationalen Vergleich immer Äpfel mit Birnen verglichen. Dort herrschen gänzlich andere Bedingungen - auch bei den kommunalen Förderungen, von denen deutsche Vereine nur träumen können.
Das heißt, der deutsche Frauen-Handball kämpft auf internationalem Niveau mit stumpfen Waffen?
Thiel: Ja, klar.
Wie gelingt es, den Abstand zur internationalen Spitze zu verkleinern?
Thiel: Wir können uns nur Schritt für Schritt verbessern. Der erste Schritt war in diesem Jahr in der Liga der einheitliche Hallenboden. Hinzu kommt der neue Vertrag mit Pay-TV-Anbieter "DOSB New Media"/"sportdeutschland.tv". Ob Pay-TV gut oder schlecht ist, darüber kann man streiten. Aber auf jeden Fall sind wir auf Dauer mit allen Spielen präsent und es gibt dafür ein wenig Geld in den Beutel der HBF.
Im Sommer endet regulär Ihre zweite Amtszeit als HBF-Vorstandsvorsitzender. Werden Sie ein weiteres Mal für das Amt kandidieren?
Thiel: Ich mache meine Arbeit gerne und ich könnte mir durchaus noch eine weitere Amtszeit vorstellen. Aber es sind noch fünf Monate bis dahin. Schau'n wir mal.
Zur Person
257 Länderspiele, drei Olympia-Teilnahmen, sieben Mal Deutschlands Handballer des Jahres - Andreas Thiel (63), aufgrund seiner Reflexe auch "Der Hexer" genannt, gehörte als Torhüter zu den profiliertesten Handballern des Landes.
Der im westfälischen Lünen geborene Vater dreier erwachsener Töchter gewann als Spieler mit dem VfL Gummersbach sechs deutsche Meisterschaften (522 Bundesliga-Einsätze) sowie dreimal den DHB-Pokal und zweimal den Europapokal der Landesmeister. 1984 kehrte er aus Los Angeles mit Olympia-Silber zurück und war 1995, bei seiner letzten von vier WM-Teilnahmen, Teil des All-Star-Teams.
Seit seinem Karriereende arbeitet Thiel als Rechtsanwalt in Köln. Er ist Justiziar der Handball-Bundesliga (HBL), Handball-Abteilungsleiter beim TSV Bayer 04 Leverkusen und seit 2018 Vorstandsvorsitzender der Handball Bundesliga Frauen (HBF).