Vier "Wossis" berichten: So sind Ost und West heute
Menschen, die in beiden Teilen Deutschlands gelebt haben, werden scherzhaft "Wossis" genannt. Wir haben vier von ihnen gefragt: Stimmt das Klischee, dass es Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschen aus dem Osten und dem Westen gab? Und wie sieht es heute, 31 Jahre nach dem Mauerfall und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung aus?
Höheres Niveau im Sport

„Was, du bist eine West-Tante?“ Mit diesem Satz ihrer Mannschaftskollegin wurde Katrin Math erst konfrontiert, nachdem sie schon ein Jahr lang in Leipzig Handball gespielt hatte. Für sie habe ihre West-Herkunft in ihren fünf Jahren in der Stadt nie eine Rolle gespielt, sagt die 48-Jährige. Aus Cuxhaven kommend zog sie 1995 nach Leipzig zu ihrem damaligen Partner – es war ihre erste Jobstation nach dem Studium. Warum sie so lange nicht als „Wessi“ aufgefallen ist? Auf die Frage überlegt sie kurz und sagt dann: „Wahrscheinlich war ich nie der ,Besser-Wessi', sondern Berufsanfänger, wie viele andere auch. Und ich habe permanent in der Stadt gelebt und war kein Wochenend-Pendler. Ich war eben ,die Norddeutsche', aber ob aus Ost oder West, das war nie Thema.“
Einen wesentlichen Unterschied gab es für sie im Sport. „In Cuxhaven hätte ich nie auf diesem Niveau Handball spielen können.“ Ihr Leipziger Team schafft es bis zum Aufstieg in die Oberliga. In der Mannschaft sind Ex-DDR-Profispielerinnen – „zum abtrainieren“. Das Leistungsniveau und der Umgang mit dem eigenen Körper sei ein ganz anderer gewesen als in ihrer westdeutschen Heimat. Und der Mannschaftsarzt war immer dabei, ob bei Heim- oder Auswärtsspielen: „im Westen sicher in dieser Liga nicht üblich“.
Katrin Math (49), arbeitet heute als Personalleiterin in Heilbronn.
Frauen waren unabhängiger

Anke Fleßner ist Mutter von zwei Schulkindern und Anwältin. Für sie war es lange selbstverständlich, dass Frauen arbeiten gehen: „In der DDR waren die Kinder in der Krippe
gut versorgt. Und einmal pro Monat hatten Mütter einen Haushaltstag, an dem sie alles erledigen konnten, was im Alltag so nicht möglich war.“ Das hat sie bei ihrer eigenen Mutter, einer Kinderärztin, erlebt und als Heranwachsende nie als Problem empfunden.
Als sie in Heilbronn selbst Mutter wird, macht sie andere Erfahrungen: „Mir war nicht klar, dass es die Möglichkeit, Kinder und Beruf zu vereinbaren, so im Westen nicht gibt.“ Fleßner erlebt regelrechte Anfeindungen von anderen Müttern als sie trotzdem schnell wieder in ihren Beruf einsteigt: „Ich habe Vorwürfe gehört wie: ,Bist du dir selbst so wichtig, dass du dein Kind schon mit einem Jahr in den Kindergarten gibst'“? Solche und ähnliche Aussagen machen ihr lange zu schaffen.
Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West sieht sie heute kaum noch. Dass die Berufstätigkeit der Frau im vereinigten Deutschland „noch immer nicht honoriert wird“, das System auf den Mann als Hauptverdiener ausgerichtet ist, bleibt für sie aber unverständlich. Sie kritisiert: Von Frauen werde damit letztlich erwartet, dass sie ihre Unabhängigkeit aufgeben.
Anke Fleßner (43), Anwältin in Heilbronn, stammt aus der Stadt Brandenburg
Vorurteile gibt es bis heute

Als die Mauer fällt, ist Jessica Ait Cheikh drei Jahre alt. Dass sie im nördlichen Thüringen geboren ist, beschäftigt sie jedoch noch Jahre später. "2008 bin ich zum Studium in den Westen gegangen. Obwohl der Mauerfall schon 18 Jahre her war, habe ich Sprüche gedrückt bekommen wie: Du bist ja in Dunkeldeutschland aufgewachsen! Gibt es bei euch überhaupt Strom?" Ihren sächsischen Dialekt trainiert sich die heute 34-Jährige ab, "um nicht mehr damit aufzufallen".
In Heilbronn sei sie noch nicht auf ihre Herkunft angesprochen worden. "Viele fragen nicht mehr nach, da ist kein Interesse da." Anders sei das während ihres dualen Studiums in Hagen (Nordrhein-Westfalen) gewesen. "Dort hieß es oft: Im Osten gibt es nur Nazis. Aber die gibt es doch auch im Westen! Hier tragen sie eben keine Springerstiefel und Bomberjacken."
In ihrer Heimat Thüringen, wo ihre Eltern bis heute wohnen, fällt Ait Cheikh inzwischen auf. Etwa, wenn sie die Uhrzeit mit "Viertel vor Zwölf" angibt. "In Thüringen sagt man Dreiviertel Zwölf. Da hieß es: Bist du zum Wessi geworden? Anfangs lacht man darüber. Aber das hat schon wehgetan." Als sie während des Studiums per Mitfahrgelegenheit jede Woche zwischen Ost und West pendelt, hört sie viele solcher Geschichten.
Dass die Menschen im Osten direkter und offener sind, merkt Ait Cheikh bis heute. "Die sagen direkt, wenn ihnen was nicht passt. Im Westen kommt das eher durch die Blume." Die 34-Jährige wünscht sich, dass ein positiveres Bild von ihrer Heimat gezeichnet wird. "Ich möchte nicht, dass die Menschen ein falsches Bild haben. Das ist total schade, denn es war nicht alles schlecht."
Jessica Ait Cheikh (34), E-Mail-Marketingmanagerin in Heilbronn, stammt aus Thüringen
Sprachbarriere zwischen sächsisch und schwäbisch überwunden

1993 begann für den Neckarsulmer Bäcker und damaligen Backstubenleiter Hans-Peter Luberacki sein "Ost-Abenteuer". Er hatte ein Bäcker-Asthma entwickelt und konnte nicht in seiner Funktion bei der Neckarsulmer Bäckerei Härdtner weiterarbeiten. Doch es bot sich eine neue Möglichkeit für ihn in einem Betrieb bei Dresden, den die Firma Härdtner kurz zuvor übernommen hatte. Luberacki wurde technischer Leiter beim Ottendorfer Mühlenbäcker.
"Das war eine unglaublich gute Zeit", sagt der heute 72-Jährige im Rückblick. Natürlich sei ihm zu Anfang ein gewisses Misstrauen entgegengebracht worden - ob er als "Besser-Wessi" komme, der den Leuten sagen wolle, wie sie zu arbeiten haben. "Aber genau das habe ich nicht gemacht", sagt Luberacki. Er sei "mit an die Front, wenn was zu machen war" und habe auf Zusammenarbeit gesetzt. Dabei hat er festgestellt: "Die Sachsen sind sehr fleißige Menschen", sie seien eigentlich den Schwaben sehr ähnlich. Barrieren gab es zu Anfang in erster Linie mit der Sprache - "die Mitarbeiter haben sächsisch gesprochen und ich schwäbisch", blickt er lachend zurück. Da habe es schon das eine oder andere Missverständnis gegeben. "Aber mit der Zeit haben wir uns aufeinander eingestellt."
Seit fünf Jahren ist Luberacki inzwischen in Rente und wieder zurück in Neckarsulm. Seine privaten Kontakte nach Sachsen pflegt er nach wie vor intensiv. Vor allem durch den Sport (Luberacki spielt Tennis) habe er viele Menschen kennengelernt und die Herkunft aus Ost oder West habe überhaupt keine Rolle gespielt. "Ich habe sehr viele gute Bekannte und Freunde gefunden", sagt er. "Das war eine tolle Zeit."
Hans-Peter Luberacki (72), stammt aus Neckarsulm und arbeitete über 20 Jahre lang bei Dresden