Wenn Krebs den Schönheitsbegriff verändert
Diagnose, OP, Bestrahlung oder Chemotherapie - Krebs greift in Körper und Aussehen eines Menschen ein. Die Entfernung einer Brust oder eines Hodens, ein künstlicher Ausgang oder große Narben sind sichtbare Spuren einer lebensbedrohenden Krankheit. Vor Betroffene liegt ein langer Heilungsprozess und ein steiniger Weg, sich auch in einem gekränkten Körper schön zu finden.

„Vieles“, schreibt die Kölner Initiative DKMS Life, „hat sich in Zeiten von Corona verändert: Krebs nicht.“ Nach wie vor erkranken rund 510.000 Menschen in Deutschland pro Jahr an den unterschiedlichen Formen dieser Krankheit, unter ihnen sind zirka 230.000 Mädchen und Frauen.
Operation, Bestrahlung, Immun-, Hormon- und Chemotherapien oder auch die Transplantation von Knochenmark können den Krebs oftmals besiegen – doch gehen diese Eingriffe immer mit einem gekränkten Selbstwertgefühl einher.
Der Begriff Schönheit wandelt sich schon kurz nach der Diagnose rapide: Während der Chemotherapie verlieren die meisten Patienten ihre Haare, ihre Wimpern und ihre Augenbrauen. Sie erhalten einen künstlichen Ausgang, von Krebs befallene Körperteile müssen amputiert werden, sichtbare Narben bleiben zurück.
Der Spiegel wird zum Feind
„Sie sehen jeden Tag im Spiegel die lebensbedrohende Krankheit“, heißt es auf der Website von DKMS Life weiter. Die eigenständige Tochterorganisation der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS gGmbH) macht es sich seit 1995 zur Aufgabe, vor allem Krebspatientinnen mit von der Industrie unterstützten Kosmetikkursen „positiv“ in ihrem Heilungsprozess zu unterstützen.
Zusammen mit dem weltweiten „look good feel good“-Patientenprogramm bietet die DKMS-Life in normalen Zeiten Schminkkurse an 320 medizinischen Einrichtungen an. Wegen der Pandemie sind diese bis Ende 2021 ausgesetzt: Als Alternative können sich Betroffene auf der Seite von DKMS Life aber zu einem Onlinekurs anmelden.
Eine Klinik, an der die DKMS Life vor der Pandemie solche Kurse angeboten hat, ist die Kraichgau-Klinik in Bad Rappenau, eine Fachklinik für onkologische Rehabilitation und chronische Schmerzerkrankungen, in der die Patienten nicht nur an Körper, sondern auch an Geist heilen sollen. Chefarzt Dr. Peter Trunzer weiß um die Verletzungen und Schädigungen nach OP, Bestrahlung und Chemotherapie. Er ist selbst als junge Mann an Krebs erkrankt, 2008 haben er und Imanuel Diefenbacher zusammen mit der Bad Rappenauer Fotografin Erika Senghaas und der „Männerselbsthilfe nach Krebs“ die Ausstellung „Ganze Kerle“ auf den Weg gebracht.

Krebskranke Männer posierten auf wunderschönen Schwarz-Weiß-Fotos in cooler Lederkleidung - mit Glatze oder teilweise riesigen Narben quer über den Bauch: „Wir haben damals auch über Sexualität und Ängste gesprochen“, erzählt Trunzer. Ein Thema, über das Männer ebenso wenig gern reden wie über ihr eigenes Aussehen.
Doch die Ausstellung war ein voller Erfolg, das Gästebuch am Ende voll ergreifender Kommentare.
Trunzer ist sicher, dass eine Krebserkrankung nicht nur das Körpergefühl von Frauen „kränkt“, wie er sagt, sondern auch das von Männern. Nach wie vor seien die Beschädigungen des Körpers ein Tabu. Die Patienten seien nach einer Therapie oft blass und faltig, Geschlechtsorgane (etwa bei Hoden- oder Brustkrebs) veränderten sich: „Das sieht man selbst im Spiegel, das sieht aber auch der Partner.“
Eine Krebserkrankung ist daher oft mit Scham verbunden. „Der Haarausfall ist reversibel“, also umkehrbar, sagt Trunzer. „Aber das, was man nicht sieht, ist schlimmer.“ Sich als schön zu empfinden, wenn man gerade einen künstlichen Darmausgang bekommen hat, sei sehr schwer.
Doch auch Dr. Peter Trunzer macht einen neuen Trend aus: Immer häufiger werde klar und deutlich gesagt, dass Krebs zwar überlebt werden kann, aber mit Defekten. Laut Trunzer ist dieses Gebiet „noch sehr unerforscht“. Daher setzt sein Engagement als Onkologe und als Ehrenamtlicher bei der Frage an, „wie gut man mit diesen Defekten leben kann“.
Eng arbeitet er seit vielen Jahren mit der Frauenselbsthilfe Krebs zusammen.
Spiel mit Farbe und Bewegung
„Schönheit und Krebs ist ein breit gefächerter Begriff“, sagt Barbara Lang, eine von drei Ansprechpartnerinnen der Frauenselbsthilfegruppe Krebs in Neckarsulm. Lang war 2003 an Krebs erkrankt. Sie habe sich ihrer Krankheit von Anfang an gestellt, erzählt sie, ging früh wieder arbeiten, weiß, wovon sie spricht.
Bei einer Krebserkrankung gehe es nicht nur um Haarausfall, Perücke und Einseitigkeit, betont auch Barbara Lang. Es gehe auch um einen veränderten Gesichtsausdruck, um Niedergeschlagenheit, die sich in der Körperhaltung zeigt, um ein Lächeln, das sich nach einer niederschmetternden Diagnose lange nicht mehr einstellen will. „In der Therapie muss es daher immer auch um Genuss und Lachen gehen.“

Sich wohlfühlen gehört für Barbara Lang zur Schönheit dazu. Angebote für mehr Bewegung, einen Austausch mit anderen Betroffenen und Offenheit im Umgang mit seelischen Nöten finden vor allem weibliche Patienten in den Regionalgruppen der Frauenselbsthilfe Krebs. Im Raum Bad Rappenau, angedockt an die Kraichgau-Klinik, gibt es für Männer als einzige Anlaufstelle weit und breit die Männerselbsthilfe nach Krebs.
„Der offene Umgang damit kommt“, ist sich Barbara Lang sicher. Jüngere Frauen täten sich leichter, offen mit ihrer Krankheit umzugehen, „aber bei der älteren Generation ist das noch ein großes Thema.“
Reden fällt ihnen schwer. Aber auch: den veränderten Körper akzeptieren können viele nicht. „Ich kenne Patienten, die ihren Prothesen-BH nicht einmal nachts zum Schlafen ablegen“, sagt Barbara Lang. In der Selbsthilfegruppe Krebs lernen die Frauen aber auch, ihre Scham vor sich selbst und vor dem Partner abzulegen.
Blick auf die positiven Dinge werfen
„Wir versuchen den Blick auf etwas anderes zu lenken, arbeiten viel mit Farbe, Tüchern, neuen Haarbändern“, berichtet Lang von vielfältigen Angeboten ihrer Gruppe. Nach wie vor bewundert sie den Mut von Mildred Scheel, der ehemaligen Bundespräsidenten-Gattin und Gründerin der Deutschen Krebshilfe, die Krebspatienten aus dem Tabu herausgeführt habe: „Den offenen Umgang mit der Krankheit finde ich wichtig.“ Und: Dinge machen, die einem gut tun. In den Selbsthilfegruppen Krebs gehe man beides an: sowohl die äußeren als auch die inneren Verletzungen.

Man gebe sich gegenseitig Tipps, welche Hilfsmittel helfen, wo es die besten Perücken gibt, welche Kosten – etwa für zwei Spezialbadeanzüge pro Jahr - von den Kassen übernommen werden, wie der Wiedereinstieg in den Beruf aussieht oder wie man eine Erwerbsminderungsrente beantragt. „Wir beraten nicht“, betont Barbara Lang, „aber wir stellen Kontakte her.“
Innere Verletzungen können heilen, wenn man mit seinem Schicksal nicht allein ist: Nicht nur Frauen würden unter den Eingriffen leiden, sagt auch Barbara Lang. Für Männer mit Brustkrebs, zum Beispiel, fühle sich niemand zuständig: „Da leidet die Psyche ganz enorm“.
Außerdem: Sport und Bewegung helfen laut Barbara Lang „unglaublich, den Heilungsprozess positiv zu beeinflussen“. Gelenkschmerzen, die sich im Laufe einer Hormontherapie einstellen können, können durch Bewegung an Land und im Wasser gemindert werden. Sport helfe auch, das Gewicht stabil zu halten, sagt Barbara Lang: Noch etwas, das Menschen brauchen, um sich schön zu fühlen.
Zuletzt weist die Ansprechpartnerin bei der Frauenselbsthilfegruppe Krebs in Neckarsulm auf die Schminktutorials der Plattform krebsratgeber.de hin: Die sind auch in Pandemiezeiten gut zu erreichen. Nach einer Krebsdiagnose, das macht Barbara Lang noch einmal ganz deutlich, „dreht sich eben nicht alles um die medizinische Versorgung, sondern auch um die Frage: Wie schön bin ich noch?“
Info
Die „Frauenselbsthilfe Krebs – mutig, bunt, aktiv“ bietet seit 45 Jahren bundesweit Hilfe zur Selbsthilfe an. Die ehrenamtlich organisierten Regionalgruppen begleiten Erkrankte „durch menschliche Zuwendung“ unter anderem psychosozial, sie helfen beim Umgang mit Ängsten vor weiteren Untersuchungen und Behandlungen und unterstützen außerdem, die Lebensqualität zu verbessern. Etwa 200 Selbsthilfegruppe gibt es allein in Baden-Württemberg. Informationen zu einer Gruppe in der Nähe gibt es zum Beispiel beim Landesverband der Frauenselbsthilfe Krebs, Sybille Krauss, Telefon 07131 1298575 oder auf der Seite der SLK Kliniken. Die Männerselbsthilfe nach Krebs ist über Imanuel Diefenbacher zu erreichen. Telefon 07266 1590.
Gut aufbereitet ist die Philosophie der DKMS-Life und des Patientenprogramms look good feel better unter www.dkms-life.de. Weiterführend Informationen zum Thema Schönheit und Krebs sowie Schminktutorials gibt es unter anderem auch auf der Plattform krebsratgeber.de.