„Innere Leere füllt sich nicht von außen“
Der Bauch zu dick, die Nase zu krumm: Fast jeder hat etwas, das ihm an sich nicht gefällt. Um Zufriedenheit zu erreichen, versuchen wir deshalb das Äußere zu verändern. Im Interview verrät Mentaltrainerin Julia Sahm, warum die Lösung dieser vermeintlichen Makel aber viel öfter in unserem Inneren liegt.
Es gibt da diesen Spruch: 'Wahre Schönheit kommt von Innen.' Was sagen Sie dazu?

Julia Sahm: Das würde ich genau so unterstreichen. Der Spruch könnte von mir sein. Alles, was wir uns im Außen wünschen, müssen wir erstmal im Inneren finden. Es ist oft ein Trugschluss, zu denken, wenn ich XY Kilo wiege, dann bin ich endlich glücklich. Oder wenn ich eine gerade Nase habe, dann fängt das Leben endlich an. Aber eigentlich wollen wir immer nur ein Gefühl erreichen. Und dieses Gefühl kommt eben nur aus uns. Das ist nichts, was wir von außen erfahren können. Es gibt Menschen, die haben von außen betrachtet alles: Erfolg, Geld, eine tolle Figur, sie sind gesund und haben Kinder. Trotzdem sind sie todunglücklich. Warum? Weil sich das Gefühl von Zufriedenheit und Glücklichsein innerlich nicht einstellt. Das Glücklichsein hängt nämlich gar nicht so sehr von Äußerlichkeiten ab, wie wir meinen.
Wie schaffe ich es, innere Zufriedenheit herzustellen?
Sahm: Das ist ein längerer Prozess und nicht etwas, was wir von heute auf morgen erreichen können. Das hat ganz viel mit unseren inneren Glaubenssätzen zu tun.
Was sind Glaubenssätze?
Sahm: Das sind Grundüberzeugungen, die wir von uns selbst haben und die durch Erfahrungen, Kommentare und eigene Schlussfolgerungen entstanden sind. Wenn wir zum Beispiel aufwachsen mit dem Gedanken, ich bin nicht gut genug, dann fühlen wir uns auch unser ganzes Leben lang nicht gut genug. Und weil wir unsere eigenen Überzeugung immer bestätigen wollen, vergleichen wir uns auch nur mit Menschen, die vermeintlich besser, schöner, dünner oder erfolgreicher sind. Das ist wie wenn man einem Esel eine Möhre vor die Nase bindet, die er aber nie erreichen kann. Wenn wir nicht die innere Zufriedenheit herstellen, in dem wir an unseren Glaubenssätze arbeiten, dann wird sich wahrscheinlich auch nichts ändern, wenn wir zehn Kilo abnehmen oder eine Schönheitsoperation machen.
Wann und wie entstehen Glaubenssätze?
Sahm: Meistens entstehen Glaubenssätze schon in der Kindheit durch Erfahrungen und Schlussfolgerungen. Ich habe da immer diesen Spruch: Nichts hat eine Bedeutung, außer die Bedeutung, die wir den Dingen geben. Zum Beispiel ist da ein Kind und die Eltern sagen zu ihm: Aus dir wird eh nie was. Als Kind sind wir noch sehr feinfühlig und können das noch nicht hinterfragen, vor allem wenn es eine Autoritätsperson sagt. Das Kind glaubt dann, dass das Gesagte die Wahrheit ist. Es muss aber auch nicht immer etwas Gesagtes sein: Wenn jemand im Sportunterricht als letztes in eine Mannschaft gewählt wird, kann es sein, dass das Kind die Situation so bewertet, dass es nicht sportlich genug ist oder niemand es mag. Solche Erlebnisse hat jeder. Daraus entstehen dann eigene Überzeugungen von uns als Person, die wir im Alter meist nicht mehr hinterfragen. Dadurch machen wir auch keine Erfahrungen, die uns das Gegenteil beweisen würden.
Ein Mädchen bekommt in der Schule von einem Mitschüler gesagt, dass seine Nase zu groß ist.
Sahm: Dann kann es sein, das Mädchen trägt diese Überzeugung das ganze Leben mit sich rum. Wenn man davon überzeugt ist, fokussiert man sich oftmals auch auf diese Dinge. Wenn dann in der Stadt ein Kerl rüber schaut, denkt sie, er hat wegen der Nase geschaut. Tatsächlich hat er gedacht, was für eine nette Frau. In ihr bleibt aber das schlechte Gefühl. Wir wissen ja nie, was andere Menschen wirklich denken, sondern interpretieren immer nur. Und diese Interpretation ist entsprechend der eigenen Überzeugung. So kommen auch Komplimente von anderen bei uns nicht an, wenn wir nicht selbst daran glauben. Eine innere Leere kann nicht von außen gefüllt werden.
Ich könnte mir vorstellen, in einer Welt von Instagram & Co. ist das gar nicht so einfach.
Sahm: Gerade für junge Menschen ist das Gift. Der Vergleich mit anderen und Idealen, die es in echt gar nicht gibt, sondern eigentlich nur bearbeitete Fotos sind, bestärkt Selbstzweifel. Mittlerweile gibt es ja Gott sei Dank auch wieder einen Trend hin zu mehr Realität. Trotzdem sollte jeder achtsam sein und schauen, was er konsumiert, wem er folgt und was ihm einfach kein gutes Gefühl gibt. Auch Eltern sollten da Aufklärungsarbeit leisten.

Wie kann ich noch daran arbeiten?
Sahm: Der erste Schritt hin zu Veränderung ist, zu analysieren, wie man sich selbst wahrnimmt. Also welche Identität man sich gegeben hat. Das funktioniert ganz gut, wenn man für sich den Satz „Ich bin“ vervollständigt: Ich bin nicht schön genug, dick, unsportlich, eine Couch-Potato. Dann muss man begreifen, dass das nur unsere eigenen Gedanken sind. Denn es ist immer so: Man hat einen Gedanken, der beeinflusst unsere Gefühle. Und unsere Gefühle beeinflussen unser Verhalten. Und unser Verhalten beeinflusst dann wieder unsere Gedanken. Das ist ein Kreislauf, deswegen ist der erste Schritt immer, bei den Gedanken anzufangen.
Können Sie das veranschaulichen?
Sahm: Wenn jemand sagt, ich bin unsportlich, muss er sich darüber bewusst werden, dass er nur denkt, er sei unsportlich. Denn durch den Gedanken fühlt er sich auch nicht motiviert, Sport zu machen. Weil er sich nicht dazu motiviert fühlt, macht er natürlich auch keinen Sport. Er wird so auch nicht die Erfahrung machen, dass er sportlich sein kann. Dadurch wird wiederum die Überzeugung gestärkt, ich bin unsportlich.
Wie unterbreche ich das Muster?
Sahm: Ich werde mir bewusst, dass es nur ein Gedanke ist. Wenn ich jetzt anfangen würde, trotzdem Sport zu machen, mache ich die erste Erfahrung: Ah, so unsportlich bin ich ja gar nicht. Das motiviert, denn man hat plötzlich das Gefühl, dass man etwas verändern kann und das Steuer selbst in der Hand hat. Durch die Motivation mache ich dann öfter Sport und stelle fest, dass ich nicht unsportlich bin und kann so diesen alten Glaubenssatz auflösen.
Also ist Body Positivity erreichbar?
Sahm: Definitiv. Dennoch muss ich sagen, dass der Begriff auch doppeldeutig behaftet ist. Body Positivity heißt eigentlich, dass man zu seinem Körper steht, ihn wertschätzt und sich wohlfühlt. Was aber oft promotet wird, ist: ,Dick sein ist ok. Wenn du übergewichtig bist, feiere dich dafür.´ Das finde ich schwierig. Denn viele reden sich dann ein, ich muss mich so lieben, wie ich bin. Das endet manchmal darin, dass man sich selbst etwas vormacht. Wenn jemand stark übergewichtig ist, ist das nicht gesund. Und wenn jemand ein problematisches Essverhalten hat, ist es auch nicht das übermäßige Essen, das ihn glücklich macht.
Zur Person
Als Mentalcoach betreut Julia Sahm (36) Menschen mit problematischem Essverhalten mit dem Ziel, die Ursache hinter dem emotionalen Essen aufzudecken. Die Heilpraktikerin für Psychotherapie lebt in einer Partnerschaft und wohnt in Konstanz am Bodensee. Seit etlichen Jahren spricht sie in ihrem Podcast über das Thema emotionales Essen, und 2020 hat sie das Buch „Lifestyle Schlank“ herausgebracht. Weitere Infos: www.shinecoaching.de