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Das Heilbronner Weindorf ist trotz Schattenseiten eine Erfolgsgeschichte

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Dieses Jahr hätte das Heilbronner Weindorf seine 50. Auflage erlebt. Doch wegen Corona wurde das Fest abgeblasen. Immerhin gibt es eine Weindorf-Auslese. Eine Erfolgsgeschichte mit viel Licht und etwas Schatten.

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Zum Silberjubiläum anno 1995 kreieren die Wengerter einen gemeinsamen Rosé. Als das Fest 30 wird, bekommt es neue Plakate. Als es ins Schwabenalter kommt, wird der Eröffnungstag von Donnerstag auf Freitag verlegt, um den bis dahin ausgerechnet freitags ausklingende Reigen bis Sonntag zu verlängern. Inzwischen wird das Heilbronner Weindorf wieder am zweiten Donnerstag im September eröffnet.

2020 stand eigentlich die 50. Auflage an. Stammgäste fragten sich, was sich Heilbronn Marketing GmbH (HMG), Verkehrsverein und 50 Beschicker zum goldenen Jubiläum einfallen lassen.

Die Spannung bleibt erhalten. Denn wegen Corona fallen Großveranstaltungen derzeit flach. Als Trostpflästerchen haben die Macher unter dem Motto Weindorf-Auslese 140 Veranstaltungen an 30 Standorten organisiert. Das 50. Heilbronner Weindorf findet also erst 2021 statt, was passt, denn das erste war 1971 angesagt - vor nächstes Jahr genau 50 Jahren.


 

Denkwürdige Tage, spektakuläre Aktionen

Dass das Fest komplett abgeblasen wird, gab es bisher noch nie. Dass die Stände an einzelnen Tagen geschlossen werden, aber sehr wohl: Aus Solidarität mit den Opfern legt man nach dem Olympia-Attentat von München am 6. September 1972 einen Ruhetag ein. Still bleibt es auch nach den Flugzeug-Terror-Anschlägen auf Amerika am 11. September 2001. Wenige Tage zuvor erlebt Heilbronn einen absoluten Höhepunkt. Zur Eröffnung wagen die Ex-Reck-Weltmeister Eberhard Gienger und Waleri Belenki Handstände auf dem 62 Meter hohen Kiliansturm.

Eröffnungsspektakel 2001 mit Handständen auf dem Kiliansturm. Foto: Archiv/Veigel
Eröffnungsspektakel 2001 mit Handständen auf dem Kiliansturm. Foto: Archiv/Veigel  Foto: Veigel

Ein Fest der Superlative

Das Weindorf ist in vielerlei Hinsicht ein Fest der Superlative: 250.000 Besucher, 50 Winzer und Wirte mit 360 Weinen und Dutzenden von Speisen an der längsten Wein- und Kommunikationstheke der Region. Der eigentliche Reiz dieses Festes lässt sich aber weder in Zahlen noch in Superlativen fassen. Wie nahe Höhen und Tiefen mitunter zusammenliegen, zeigt sich an Wochenenden: von der einst mit Glasscherben übersäten Kaiserstraße über die seit 2001 notwendigen Stadtbahn-Sperrgitter, zugeparkte Seitenstraßen, wilde Pinkler.

Trotz aller Schattenseiten: Dieses Fest ist eine Erfolgsgeschichte, auch wenn es zunächst eher ein Zufallsprodukt ist. Anlässlich der Heimattage 1971 werden parallel zum damaligen Wengerter-Hauptfest, dem Heilbronner Herbst auf der Theresienwiese, auf dem Marktplatz ein paar Ausschankhütten platziert: eigentlich einmalig. Aber weil sich das Ganze als Renner erweist, wird es zur Dauereinrichtung. Während auf der Theresienwiese aus 0,5-Liter-Schoppen konsumiert wird, gibt man sich am Marktplatz feiner. Hier werden kleine Zehnteles-Gläser gereicht. Im Ausschank sind 68 verschiedene Tropfen zum Preis von 50 Pfennig bis zu einer Mark.

Das erste Zelt war eine Boxauto-Halle

Herzstück ist eine mit Stühlen und Tischen ausgestattete Boxauto-Halle des Schaustellers Erich Grund. Drumrum stellen sieben Genossenschaften Häuschen auf: Heilbronn, Flein, Nordheim, Erlenbach, Lauffen, Talheim, Schwaigern. Abgerundet wird das Provisorium durch einen Imbiss- und einen Mandelstand. Ein voller Erfolg. Fast alle sind aus dem Häuschen. 1972 klinken sich Weinsberg und Südmilch ein, wobei der damalige Geschäftsführer der Genossenschaftskellerei, August Muhler, anfangs Probleme hat, neue Winzer aufzutreiben. Zu viele Wengerter haben damals kein Marketing nötig.

1973 feiert man in einem durch den Marktplatz-Umbau aufgehübschten Ambiente. 1974 folgt die erste Dorferweiterung. Im Innenhof zeigt Grantschen Flagge, Drautz-Able mit Eberbach-Schäfer an der Lohtorstraße. 1975 sorgen Brackenheim, Dürrenzimmern und Bönnigheim für die Abrundung an der Rathausgasse. Gleichzeitig initiiert die Heilbronner Stimme den Blumenschmuck-Wettbewerb, über den schöne Stände neben dem Wein zu einem Markenzeichen des Festes avancieren.

Auch Soldaten fanden am Fest Gefallen, hier 1980 mit Literflaschen. Foto: Archiv/Eisenmenger
Auch Soldaten fanden am Fest Gefallen, hier 1980 mit Literflaschen. Foto: Archiv/Eisenmenger  Foto: Eisenmenger

Neue Winzer, neue Wirte

1977 stoßen Göhring und Keicher hinzu, deren Stand an der Rathaustreppe inzwischen von G.A. Heinrich und Hochschule Heilbronn besetzt ist. Rotationen gibt es auch in dem lange von Wurst und Pommes dominierten Imbissbereich, etwa 1984 wegen des Neubaus des Käthchenhofs sowie später durch Gastronomen wie Burkhardt, Straub und Umberto. Auch die Ratskeller-Brüder Mosthaf zeigen bald, was zum Wein passt.

Der Sekt-Gemeinschaftsstand wird 1988 aus der Taufe gehoben - und 2016 aufgegeben. Bei Senioren umstritten ist das 1999 besiegelte Aus des Marktplatz-Zeltes. Oft war es schon mittags proppenvoll, Seppel Schell machte Musik. Es folgen vier "Beduinen-Zelte", die inzwischen verschwunden sind. Gewandert ist die Hauptbühne: vom Rathaus-Anbau übers heutige Presutti zum heutigen Standort Kaiserstraße.

Gestalterisch hoch ambitioniert

Die Musik hat sich im Laufe der Jahre von volkstümlich über rockig zu poppig und swingend gewandelt. Die Kritik an der Lautstärke ist leiser geworden, ebenso wie Beschwerden von Anwohnern, die mitunter unter Randerscheinungen leiden. "Alles ist besser geworden", betonen schon vor Jahren der Verkehrsvereinschef Bernhard Winkler: nicht zuletzt dank Flaschen- und Müllsammeldienst von Union Böckingen, Tauchclub Heilbronn und FCU Heilbronn.

Überhaupt lassen die Veranstalter bei der "Verfeinerung" des Festes nicht locker. Nicht nur bei Wein und Speisen. Alte Deko-Teile werden nach und nach ausgemustert und durch moderne Elemente ersetzt: von Metall-Lauben bis zu Sonnensegeln. Nur im Innenhof scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Eigentlich ist das Weindorf ein Fest der Steher. Hie und da gibt es aber auch Sitzplätze, wie hier 1974 unter den Rathausarkaden. Foto: Archiv

Politikum durch Hohenloher

Mitunter wird das Fest zum Politikum. Als nach dem Abschied von Eberbach-Schäfer und Bönnigheim immer mehr Wengerter anklopfen, will der damalige OB Helmut Himmelsbach das Weindorf zum Schaufenster für die ganze Weinregion machen. Von der Parole "Holt Hohenloher ins Dorf!" sind Heilbronner Standesvertreter nicht begeistert. Gemeinschaftsstände bringen Ruhe in die Gassen: Wein-Villa, Wengertersstand, Hohenlohe, Weinsberger Tal.

Die Warteliste für den Einstieg ins Dorf umfasst damals 60 Betriebe. So wundern sich viele, dass 2010 der Fürst zu Hohenlohe-Oehringen kurzfristig abspringt, aus betriebswirtschaftlichen Gründen. Ein Nachfolger ist schnell gefunden: 2011 kommt die WG Heuholz, die 2016 mit der Weinkellerei Hohenlohe fusioniert.

Erweiterung durch Buga

Im Vorfeld der Bundesgartenschau 2019 wächst das Fest weiter: am Hafenmarkt gehen die "Neckarpiraten" vor Anker, also Willy, Cleebronn-Güglingen und Felsengartenkellerei Besigheim. Lounge-Möbel aus Paletten bilden die Brücke ins Dorf. Dort weht nun auch gastronomisch ein frischer Wind: mit Erwin Gollerthan, Marcel Küffner sowie dem RBS-Trio mit Matthias Hornung, Benjamin Horn und Stephan Goslar.

Doch es gab auch immer wieder Aussteiger. Die Zeiten, da man sich im Weindorf eine goldene Nase verdient hat, sind vorbei. Dennoch gilt das Fest als wichtige Marketingplattform für Wirte und Winzer. Und den - mit Ausnahmen von 2020 - jährlich rund 250.000 Besuchern macht es einfach Spaß.

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