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Als ein Bühnenstück über Jesus Heilbronn einen Theaterskandal beschert

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Wie viel Kritik muss Kultur und eine Stadtverwaltung aushalten? Im Fall des umstrittenen Theaterstücks "Corpus Christi", das Jesus als schwulen Mitmenschen zeigt, hat Heilbronn Haltung bewiesen. Bei der Kunstaktion "Käthchenschmeißen" vier Jahre später bläst die Kulturverwaltung das Projekt aus Angst vor Imageschaden ab.

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Konfliktträchtiger Stoff: Luis Madsen als schwuler Jesus in der deutschsprachigen Erstaufführung am 18. September 1999 im Theater Heilbronn. Foto: Archiv/Andritsch
Konfliktträchtiger Stoff: Luis Madsen als schwuler Jesus in der deutschsprachigen Erstaufführung am 18. September 1999 im Theater Heilbronn. Foto: Archiv/Andritsch  Foto: Foto: Archiv/Andritsch

Sind wir zu empfindlich, zu schnell beleidigt? Wo liegen die Grenzen des Zumutbaren? Ist Cancel Culture als politisches Schlagwort ein ideologischer Kampfbegriff, der gerne von Rechtspopulisten genutzt wird, um berechtigte Proteste zu verunglimpfen? Der Begriff aus dem englischen Sprachraum beschreibt - wortwörtlich übersetzt - erst einmal Ungeheuerliches: die Praxis, auszuradieren, zu löschen. Im weitesten Sinne sollen Personen oder Organisationen sozial ausgeschlossen werden, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen vorgeworfen werden. Das heißt, ihnen soll die öffentliche Plattform entzogen werden.

Emotional aufgeladenes Modewort

Von den Gegnern dieser Tendenz als Absage-, Lösch- oder Zensurkultur popularisiert, ist das Phänomen nicht neu, dafür so ambivalent wie seine Verteidiger und Kritiker schwer einzuordnen sind. Der Vorwurf einer Cancel Culture bedeutet nicht selten eine Generalverurteilung der politischen Linken. So verfolgt der ehemalige US-Präsident Donald Trump entsprechende Strategien der Verleumdung einzelner Personen, Organisationen, Medien und Publikationen. Dass Cancel Culture zum emotional aufgeladenen Modewort geronnen ist, verstellt den Blick auf eine Entwicklung, die ernst zu nehmen ist und gar nicht neu. Wie zwei (Vor-)Fälle aus dem Heilbronner Kulturleben zeigen, die einige Jahre zurückliegen: bedenkliche Versuche, unter dem Vorwand religiöser Sittlichkeit die Freiheit der Kunst zu beschneiden. 


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"Corpus Christi": Der größte Theaterskandal der Stadt Heilbronn - mit bundesweiter Wirkung

Intendant Klaus Wagner (Mitte) diskutiert mit aufgebrachten Demonstranten während einer der abendlichen Demos gegen die Aufführung von "Corpus Christi". Foto: Archiv/Veigel
Intendant Klaus Wagner (Mitte) diskutiert mit aufgebrachten Demonstranten während einer der abendlichen Demos gegen die Aufführung von "Corpus Christi". Foto: Archiv/Veigel  Foto: Foto: Archiv/Veigel

Im September 1999 findet am Heilbronner Theater die Uraufführung von "Corpus Christi" statt - und sollte sich nach einer ruhigen Premiere zum größten Theaterskandal der Stadt entwickeln, der monatelang auch bundesweit Wellen schlug. Ein Skandal war das Stück von Terrence McNally in den Augen seiner Kritiker, von besonnenen Christen bis zu Fundamentalisten und Fanatikern, die nicht nur vor dem Theater Heilbronn Mahnwache hielten, sondern Drohbriefe verschickten und mit Bomben drohten.

Warum? Autor Terrence McNally, einer der großen amerikanischen Dramatiker, geehrt mit den wichtigsten Theaterpreisen seines Landes, der unter anderem das Libretto zum Musical "Der Kuss der Spinnenfrau" und das Stück "Meisterklasse" über Maria Callas schrieb, erzählt die alte Geschichte von Jesus und seinen Jüngern neu: Jesus ist Amerikaner, heißt Josua und ist schwul. McNally, der im Jahr 2000 starb, konfrontiert in "Corpus Christi" den Kern der christlichen Botschaft  - "Du sollst Gott, deinen Herren, lieben und den Nächsten wie dich selbst" - mit einer Form von Außenseitertum, mit Homosexualität.

13 Männer spielen das Leben Josuas nach: eine Teenagergeschichte in der Provinz

In seinem 1998 am Broadway uraufgeführten Stück spielen 13 Männer das Leben Josuas durch: von der Geburt über den College-Schlussball bis zum ersten Kuss eine alltägliche Teenager-Geschichte in der amerikanischen Provinz. Denn Corpus Christi ist erst einmal nichts anderes als der Name der Stadt in Texas, in der Terrence McNally 1939 geboren wird. Warum findet vor 22 Jahren die deutschsprachige Erstaufführung dieses Stücks, das bereits in New York einen Skandal verursachte, in Heilbronn statt und nicht in Berlin, Hamburg oder Stuttgart? "Die Heilbronner Theaterleitung hat einen guten Riecher gehabt und rechtzeitig zugegriffen", meint damals Regisseur Harald Siebler im Gespräch mit unserer Zeitung.

Befürworter von "Corpus Christi" demonstrieren vor dem Heilbronner Theater für Toleranz. Foto: Archiv/Veigel
Befürworter von "Corpus Christi" demonstrieren vor dem Heilbronner Theater für Toleranz. Foto: Archiv/Veigel  Foto: Foto: Archiv/Veigel

Was in den kommenden Monaten an Widerstand und Hass jenseits diskussionswürdiger Kritik folgt, dürften Siebler und das Theater nicht geahnt haben.  Der "Heilbronner Stimme" beschert "Corpus Christi" eine der nachhaltigsten Leserbriefdebatten zwischen "Gotteslästerung" und "ein Symbol der Nächstenliebe". Was als lebendige Auseinandersetzung beginnt, entwickelt sich zum schwer fassbaren Angriff auf Kunst- und Meinungsfreiheit. "Ob die Europapremiere ohne Bombendrohungen über die Bühne geht, bleibt abzuwarten", prophezeit das Kultur-Magazin des "Spiegel" damals im Vorfeld.

Anonyme Bombendrohung, Drohbriefe und Unterschriftenaktionen

Tatsächlich sollten anonyme Bombendrohungen eingehen und das Theater geräumt werden. Vier Monate nach der Heilbronner Premiere fordert eine Liste mit rund 11.000 bundesweit gesammelten Unterschriften die Absetzung des Stückes. Der damalige Intendant Klaus Wagner und Heilbronns Oberbürgermeister Helmut Himmelsbach bleiben standhaft. "Corpus Christi" wird nicht vom Spielplan genommen. "Ich nehme den Inhalt der Proteste gegen das Stück durchaus ernst, aber wir lassen uns nicht erpressen", bekennt Himmelsbach. Und Klaus Wagner: "Ich habe das Wort Morddrohung niemals ernst genommen. Die Gegner sagen ja nicht, dass sie uns umbringen, sondern, dass wir unser Leben verwirkt haben. Menschen, die so etwas tun, meinen keine Inhalte, sondern sie wollen Macht ausüben. So etwas darf die Gesellschaft nicht zulassen."

Jesus ist Amerikaner, heißt  Josua und versteht sich als "König der Schwulen". Foto: Archiv/Veigel
Jesus ist Amerikaner, heißt Josua und versteht sich als "König der Schwulen". Foto: Archiv/Veigel  Foto: Foto: Archiv/Veigel

Die Gesellschaft, das sind zum einen die 17.000 Theaterbesucher, die dem Stück in 27 Vorstellungen applaudieren und eine Platzausnutzung von 99,1 Prozent in der Spielzeit 1999/20  bescheren. Die Gesellschaft, das ist auch die zu dem Thema schweigende Mehrheit, sind aber auch lauthals protestierende Bibelkreise und Christen sowie eine teils radikalisierte zu Verschwörungstheorien neigende Minderheit. Ihnen ist allein der Zusammenhang von Religion und Sexualität ein Dorn im Auge.

Offener Brief von CDU/CSU Abgeordneten des Bundestags

Ob Nico Weinmann, damals neuer Stadtrat der Freien Wählervereinigung, seine Forderung an Helmut Himmelsbach -"Herr Oberbürgermeister, setzen Sie das Theaterstück ,Corpus Christi' ab" - wiederholen würde? Einen bundesweiten Aufführungsstopp fordern übrigens noch im Juli 2010 40 CDU/CSU-Abgeordnete des Deutschen Bundestags und des Europäischen Parlaments in einem Offenen Brief unter anderem an den damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofkonferenz Karl Lehmann. Darunter der heutige Innenminister Horst Seehofer.


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Aufregung um und Verbot der Aktion "Käthchenschmeißen"

Rund 40 nackte Käthchenfiguren aus Ton in einer Vitrine des Heilbronner Stadttheaters erregten im November 2003 die Gemüter. Foto: Archiv/Sattar  Foto: Foto: Archiv/Sattar

Als Heilbronner Kunstaufreger ohne bundesweite Resonanz, dafür mit einem faktischen Verbot endet Ende 2003 eine Aktion bereits während ihrer Planung. Bevor es zum finalen "Käthchenschmeißen" kommen soll, einer für April 2004 geplanten Performance des Berliner Künstlers Volker März vom Dach des Heilbronner Theaters herab, bläst die oberste Kulturverwaltung der Stadt die Aktion ab und ziehen die Städtischen Museen Heilbronn als Mitinitiator ihre Teilnahme zurück. Davor hatte schon die Gemeinderatsfraktion der Republikaner den nächsten Kunstskandal gewittert und sich in einer Pressemitteilung gegen das Spektakel "eines gewissen Volker März" gewandt, das sie als "pervers" und "billig" bezeichnen. Worum es geht?

20 fötusartige Tonfiguren drängen sich in einer Vitrine 

Als Teil seiner Ausstellung "Ersatzmenschen" im Deutschhof sind seit Oktober 2003 auch an verschiedenen Orten der Stadt März' Kunstfiguren aus Ton zu sehen, so auch im Heilbronner Theaterfoyer. Über 20 fötusartige Käthchenfiguren drängen sich dort in einer Vitrine, von wo aus die kleinen, nackten Monster in den folgenden Wochen durchs Haus wandern sollen. März' Sicht auf "ein vom Kaiser mit einer untreuen Heilbronnerin nach einer wilden Reichs-Party gezeugtes uneheliches Kind" ist erfrischend eigenwillig. Er hat es als hautfarbenes, also unschuldiges, als rotes, also erregtes, sowie als schwarzes, also verkohltes Figürchen in Serie gefertigt.

Rückzug aus Angst vor Imageschaden

Freunde und Bekannte sowie Heilbronner Passanten haben die Käthchenfiguren schon mal probeweise in die Luft geworfen. "Käthchenschmeißen" nennt März das Projekt, mit einer Digitalkamera hat er den Schwebezustand festgehalten. Zur Abschlussaktion des Gesamtkonzepts auf dem Dach des Heilbronner Theaters wie gesagt soll es nicht kommen. Die Stadt fürchtet einen Imageschaden und will wohl möglichen Protest gegen die Aktion nicht aushalten. Dieter Brunner, damals Ausstellungsleiter der Städtischen Museen, bedauert, dass ihm "die Hände gebunden" waren, er aber "auch zu zurückhaltend" reagiert hat. "Im Sinne der Kunst wäre es besser gewesen, die Sache durchzuführen." Und: "Wenn ein Imageschaden für Heilbronn entstanden sein sollte, dann durch die Verhinderung."   

Tonfigur von Volker März in der Ausstellung "Ersatzmenschen" im Deutschhof Heilbronn, auch eine Art des Käthchenschmeißens. Foto: Archiv/Kempf
Tonfigur von Volker März in der Ausstellung "Ersatzmenschen" im Deutschhof Heilbronn, auch eine Art des Käthchenschmeißens. Foto: Archiv/Kempf  Foto: Foto: Archiv/Kempf

 

 

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