Unfallopfer haben Albträume und Panikattacken
Ein 26-jähriger Lkw-Fahrer erzählt von dem Auffahrunfall an einem Stauende, den er miterlebt hat, und den Folgen davon. Sein Leben ist nun ein anderes als zuvor. Beruflich und privat.

Lkw-Fahrer Marvin Reichert sieht den Auffahrunfall am Stauende auf der Autobahn kommen. Geistesgegenwärtig verhindert der 26-Jährige Schlimmeres. Er bleibt unverletzt, andere haben weniger Glück, und er macht die Erfahrung: "Das Ereignis hat mich gezeichnet."
Das Leiden an den Unfallfolgen sei in der breiten Bevölkerung nicht bekannt, meint Polizeihauptkommissarin Silke von Beesten. Sie ist Vorstandsmitglied im Verein Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD). Ihr zufolge drücken sich Versicherungen oft um die finanziellen Folgekosten. Außerdem sind da noch die seelischen Qualen. Die Wartelisten bei Therapeuten sind lang, Unfallbeteiligte bleiben allein. "Wir hören jeden Tag von Unfällen und viele denken, mir passiert das nicht", verweist von Beesten auf Verdrängungsmechanismen.
Traumberuf Fernfahrer
Marvin Reichert lebt im hessischen Tann an der Rhön. Fernfahrer ist sein Traumberuf. Schon als Kind habe ihn der Vater mit auf Tour genommen. Die dicken Brummis faszinieren ihn noch heute.
An jenem Tag im Sommer 2019 ist Marvin Reichert auf der A27 unterwegs. Die Route Bremen Stuttgart fährt er regelmäßig. Geladen hat er nach eigenen Angaben etwa zehn Tonnen Maschinenteile und Autolacke, Gefahrgut. Bei Verden in Niedersachsen befindet sich eine Baustelle. Auf der zweispurigen Autobahn bildet sich rechts ein Stau. Zwischen seinem Lkw und dem Bus davor lässt er genügend Platz, erzählt Reichert. Auch der Lkw hinter ihm bleibt auf Distanz. Dann nähert sich von weiter hinten ein Sattelzug. Die Geschwindigkeit - ungedrosselt. Dass der Sattelzug auf den Lkw hinter ihm prallen und diesen auf sein eigenes Fahrzeug schieben wird, sieht Reichert kommen.
Um zu verhindern, dass sein Lkw auf den Bus kracht, versucht Reichert, nach links auf die Spur zu ziehen. Die Fahrerkabine ist auch schon über dem Mittelstreifen, doch der Hintermann stößt auf sein Heck. Reicherts Fahrzeug kommt an der Mittelleitplanke zum Stehen. Reichert trägt ein paar Kratzer davon. Der Hintermann sei leicht verletzt worden, der rumänische Fahrer des Sattelzugs kommt mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus. Den Businsassen passiert nichts.
Ein Burn-out droht
"Eine Woche später bin ich schon wieder Lkw gefahren", sagt Reichert. Doch es ist nicht mehr wie vorher. Nähert er sich einem Stauende, gerät er in Panik. Nachts wacht er schweißgebadet auf, hat Albträume. "Ich bin jemand, der das mit sich selbst ausmacht", sagt Reichert. Doch das funktioniert nicht.
"Etwa zwei Monate später, kurz vor einem Wochenende, suchte ich gerade nach einem Stellplatz für den Lkw", erinnert sich der 26-Jährige. "Dann ging es los." Reicherts linker Arm wird taub, das Blickfeld verengt sich. Seine Verlobte holt ihn ab und fährt ihn zu einem Arzt. Der sagt, Reichert steuere geradewegs auf ein Burn-out zu. "Das war der Wendepunkt."
Der Verein VOD kümmert sich um Menschen, die oft noch Jahre nach einem Unfall leiden. Nicht nur das Ereignis kann traumatisieren. Versicherungen bezweifeln den Unfallhergang oder erkennen den Unfall nicht als Ursache für körperliche und psychische Schäden an, sagt von Beesten. Jahrelange juristische Auseinandersetzungen und finanzielle Nöte sind die Folgen. Unfallbeteiligte werden arbeitslos, Ehen zerbrechen, der gewohnte Lebensstandard bricht ein. Dass Betroffene rasch und umfassend Hilfe erhalten, dafür kämpft die Unfall- Opferhilfe.
Lkw-Fahrer verändert sich
Marvin Reichert fährt weiter Lkw, aber nur Tagestouren, abends ist er zu Hause. Früher war er die ganze Woche über fern der Heimat. Er setzt sich nicht mehr dem Stress aus. "Jeden Tag Unfälle sehen, jeden Tag Staus, jeden Tag Parkplatz suchen." Er habe sich verändert. "Ich bin kritischer geworden, vorsichtiger und ruhiger." Verändert habe sich außerdem sein Freundeskreis. "Ich habe gemerkt, wer zu mir steht, und von Menschen Abstand genommen, die mir nicht guttun."