Boris Palmer (52) ist seit fast 20 Jahren Oberbürgermeister in Tübingen. Nach einem Rassismus-Vorwurf trat er 2023 nach 27 Jahren Mitgliedschaft bei den Grünen aus. Mit der Ärztin und Bestsellerautorin Lisa Federle hat Palmer das Buch „Wir machen das jetzt!“ geschrieben, das seit Freitag (25. April) im Handel erhältlich ist. Sie beschreiben darin die Herausforderungen beim Klimaschutz, bei Zuwanderung, Digitalisierung und Infrastruktur. Palmer ist verheiratet und hat zwei Söhne.
Palmer löste Bürgergeld-Debatte aus: „Kann man arbeitenden Menschen nicht erklären“
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hatte im TV-Talk mit Markus Lanz erklärt, dass eine einzelne Familie Bürgergeld in Höhe von über 6000 Euro bekommen habe. Als Nachweis postete er den Bescheid auf Facebook. Im Interview räumt er den Populismus-Vorwurf aus.
Boris Palmer, der parteilose Oberbürgermeister von Tübingen, war am Dienstagabend zu Gast bei der TV-Sendung Markus Lanz. Dabei ging es auch um das Thema Bürgergeld. Gegenüber dem Moderator erklärte Palmer, eine einzelne Familie habe monatlich über 6000 Euro vom Staat empfangen – Lanz und Publikum zeigten sich ungläubig. Als Beweis postete Palmer den Bescheid auf seinem Facebook-Profil, was für hitzige Diskussionen sorgte. Im Interview mit der Heilbronner Stimme erklärt Boris Palmer nun seinen Standpunkt:
Wie fielen die Reaktionen nach Ihrem Besuch bei Markus Lanz aus?
Boris Palmer: Bislang sind etwa 200 Mails angekommen. Sehr viele bedanken sich, dass jemand klar anspricht, wie die Dinge im Land sind. Da gibt es offensichtlich ein großes Bedürfnis. Einige Empörte zweifeln an, dass eine Bedarfsgemeinschaft Bürgergeld in Höhe von 6000 Euro erhalten kann, und werfen mir Populismus vor.
Wie empfanden Sie die Sendung?
Palmer: Ich fand, es war eine sehr gute Sendung. Nicht der klassische politische Streit, sondern die Schilderung des Befundes. Das Land fährt vor die Wand, die kommunalen Finanzen befinden sich im freien Sinkflug und dafür sind auch ganz wesentlich explodierende Sozialkosten verantwortlich.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach am Bürgergeld ändern?
Palmer: Die wesentlichen Änderungen stehen tatsächlich im Koalitionsvertrag. Deswegen ist aus meiner Sicht die Debatte jetzt völlig überaufgeregt. Es muss wieder Sanktionen geben, vor allem für die, die nicht zu Terminen im Jobcenter erscheinen. Dass die Leute bei einem Drittel der Termine beim Jobcenter nicht auftauchen, das ist ein Zustand, den man einfach nicht akzeptieren kann.
Die von Ihnen erwähnten 6000 Euro hängen auch mit den Wohnkosten zusammen. Ihr Vorschlag?
Palmer: Es gibt eine Regelung aus der Corona-Pandemie, die sagt, die tatsächliche Miete wird unbegrenzt bezahlt. Das war damals sinnvoll, jetzt führt es zu Missbrauch. Und zwar nicht durch Bürgergeldbezieher, sondern clevere Vermieter. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Um das zu dokumentieren, hab ich gesagt, ich kenne Bescheide mit über 6000 Euro für einzelne Familien. Das kann man arbeitenden Menschen in diesem Land nicht erklären. Fast kein Familienvater bringt 6000 Euro netto nach Hause. Deswegen ist die einfache Forderung, zurück zur Regel vor der Pandemie. Nur die angemessene Miete wird bezahlt, nicht die tatsächliche, egal wie hoch sie ist. Und das scheint mir weder populistisch noch unangemessen noch irgendwie unsozial zu sein, sondern schlicht notwendig.

Was wäre Ihr Vorschlag, wenn Bürgergeld-Empfänger nicht zum Beratungsgespräch erscheinen?
Palmer: Einmal kann man das durchgehen lassen, beim zweiten Mal muss es eine deutliche Kürzung der Leistungen geben. Und genauso stelle ich mir auch die Ausformulierung des Koalitionsvertrags vor. Da muss es einfach Sanktionen geben. Die Idee, dass man einfach sagen kann, ich komme nicht und das Geld kommt trotzdem, ist für mich als schaffigen Schwaben sowieso unverständlich.
5,6 Millionen Menschen erhalten derzeit Bürgergeld, ungefähr 1,7 Millionen davon sollen arbeitsfähig sein. Gibt’s denn Möglichkeiten, die die Stadt Tübingen ergreift, um diese Menschen in Lohn Brot zu bringen?
Palmer: Der Bund hat Fehlanreize geschaffen, nicht zu arbeiten. Das kann die Stadt nicht korrigieren, das muss der Bund schon selbst tun. Arbeit muss sich wieder lohnen, immer. Ich halte das auch für eine immens sozialpolitisch wichtige Frage, weil die große Mehrheit derer, die schafft, einfach wenig Verständnis dafür hat, wenn man ohne Arbeit fast dasselbe Geld hat. Das ist ein Treibsatz, auf dem die AfD reitet. Leute haben den Eindruck, dass es möglich ist, von Steuergeld zu leben, ohne zumutbare Arbeit anzunehmen. Das führt zu enormer Unzufriedenheit. Dem muss entgegengewirkt werden.
Was soll mit der Zuwendung der Bürgergeld-Empfänger passieren, die zumutbare Arbeit ablehnen?
Palmer: Wenn die künftige Bundesregierung das macht, was im Koalitionsvertrag steht, dann werden viele Probleme gelöst werden. Ich freue mich insbesondere, dass die SPD ihn so unterschrieben hat. Eines der großen Probleme der letzten Jahre war doch, dass die SPD nicht mehr als Partei der Arbeiter wahrgenommen wurde. Sondern als Interessensvertreter derer, die gar nicht arbeiten und trotzdem staatliche Leistungen empfangen wollen. Wahnsinnig viele SPD-Wähler sind zur AfD gewechselt. Was noch fehlt, ist die Deckelung der nach oben offenen Zahlungen von Wohnkosten.