Sexuelle Gewalt an Kindern ist massives Problem im Hohenlohekreis
Sexuelle Gewalt an Kindern nimmt massiv zu. Eine Sozialarbeiterin nennt erschreckende Zahlen für den Hohenlohekreis und sagt: „Auf dem Land ist die Welt nicht in Ordnung“. So schlimm ist die Lage.
Die Zahlen sind erschreckend. Laut der jüngsten Kriminalstatistik waren in Deutschland zuletzt 16.375 Fälle aktenkundig, bei denen junge Menschen unter 14 Jahren sexuelle Gewalt erlebt haben – mit oder ohne Körperkontakt. Und jeden Tag kommen 45 neue Fälle dazu.
Kooperationsstelle gegen häusliche und sexuelle Gewalt:„Sexueller Missbrauch ist eine Volkskrankheit wie Diabetes“
„Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer ist wesentlich höher“, sagt Elke Hammel, die Leiterin der Informations- und Kooperationsstelle gegen häusliche und sexuelle Gewalt im Hohenlohekreis (Infokoop). Demnach werde jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder siebte bis achte Junge unter 14 Jahren Opfer von sexueller Gewalt.
„Und zwei Drittel davon werden mehrfach missbraucht“, so Hammel. „Sexueller Missbrauch ist eine Volkskrankheit wie Diabetes.“
Sexuelle Gewalt an Kindern im Hohenlohekreis: Ein Stadt-Land-Gefälle gibt es nicht
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seien in Deutschland eine Million Kinder betroffen. „Das sind ein bis zwei pro Schulklasse.“ Und das Schlimme ist: „Es gibt kein Stadt-Land-Gefälle.“ Bei über 20.000 Kindern im Hohenlohekreis wären das also hier bei uns allein 3300 bis über 4000 betroffene Kinder“, rechnet Hammel vor. Rund 4200 Kinder hätten zudem häusliche Gewalt erlitten, die gar nicht in die offizielle Kriminalitätsstatistik mit einfließe. „Das sind 25 Prozent.“
Insgesamt heißt das für sie: „Auf dem Land ist die Welt in dieser Hinsicht eben nicht in Ordnung.“ Die Täter kämen laut Hammel „aus allen Altersgruppen, Berufsgruppen und sozialen Schichten“. 80 bis 85 Prozent seien männlich und ein Drittel Jugendliche über 14 Jahre. Die meisten Täter, nämlich 30 Prozent, stammten aus dem direkten Umfeld der Kernfamilie, „nur 20 Prozent sind Fremdtäter.“

Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen ebenfalls massives Problem – vor allem die digitale Gewalt „fliegt uns um die Ohren“
Bei sexueller Gewalt, die Jugendliche unter ihresgleichen erleiden, seien die Zahlen ebenfalls erschreckend. „In Schulen sind 50 Prozent der Mädchen und 25 Prozent der Jungen mit sexuellen Übergriffen konfrontiert“, berichtet Hammel. „Jungen fällt es besonders schwer, darüber zu reden“, so Hammel. „Opfer ist bei ihnen ein Schimpfwort. Sie haben noch weniger gelernt, Hilfe zu holen“, sagt Hammel.
Jugendliche benennen also „überwiegend ihre eigene Altersgruppe als Täter“, Hammel spricht nochmals von „ganz massiven Zahlen“. Und: „Für solche gezielten Übergriffe an Kindern und Jugendlichen haben wir gar keine Beratungsangebote. Wir wissen gar nicht, wo wir sie hin vermitteln sollen.“ Vor allem die digitale Gewalt „fliegt uns um die Ohren.“ Das reiche bis in Grundschulen. Reihenweise würden kinderpornografische Inhalte verbreitet. „Auch diese Zahlen nehmen massiv zu, da haben wir eine riesengroße Baustelle.“
Sexuelle Gewalt an Kindern im Hohenlohekreis: Im Jugendhilfeausschuss herrscht große Betroffenheit
Nachdem Elke Hammel ihren Vortrag im Jugendhilfeausschuss des Hohenloher Kreistags beendet hat, ist vielen Gremiumsmitglieder die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben. Erster Landesbeamter Gotthard Wirth, der die Sitzung leitet, meint: „Es ist traurig und trostlos, dass es so schlecht aussieht und erstaunlich, wie solche Zahlen in diesem Ausmaß auf den Hohenlohekreis heruntergebrochen werden können.“
Doch Wirth verbreitet gleichzeitig ein bisschen Hoffnung und blickt auf den am 31. Januar 2025 im Bundestag beschlossenen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. „Ich bin guter Dinge, dass auf Basis dieses Bundesgesetzes künftig mehr Geld an die Kreise geht. Ob es dann vollständig auskömmlich ist, daran habe ich meine Zweifel.“
Gewalt an Kindern im Hohenlohekreis: Bisher ist Finanzierung ein Balanceakt, Kinderdorf stemmt das meiste freiwillig
Bisher ist das Angebot dürftig. Und die Infokoop ackert auf diesem Feld seit 2001 und holt mit ihren beschränkten Mitteln das Optimum heraus. Der Kreis gewährt jetzt erneut einen Zuschuss von 10.000 Euro, das Land aber kleckert eher als dass es klotzt, und ohne die freiwillige Leistung des Albert-Schweitzer-Kinderdorfs könnte die Infokoop gar nicht aufrechterhalten werden. Der Verein mit Sitz in Waldenburg trägt das Defizit, 2024 waren es immerhin 95.300 Euro.
Die Infokoop berät betroffene Eltern, Kinder und Jugendliche. Und sie schult Fachkräfte und Ehrenamtliche, die mit ihnen zu tun haben, also Erzieher und Lehrer, Schulsozialarbeiter und Vereinsmitglieder. 536 Kontakte gab es 2024, davon kamen 286 zum ersten Mal zustande. Alles ist kostenlos und streng vertraulich. „Wer zu uns kommt, bestimmt selbst, was erzählt wird“, sagt Hammel. „Wir sind keine Strafermittler und müssen nichts der Polizei melden. Wir machen keine Diagnostik, sondern nehmen es so hin, wie es uns erzählt wird.“ Das Wichtigste sei, den Betroffenen größtmögliche Aufmerksamkeit und Hingabe zu schenken: „Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen, aber wir können den Rucksack aufräumen, damit er leichter zu tragen ist.“
Die Infokoop hat ihren Sitz in der Gaisbacher Straße 7 in Künzelsau. Die Beraterinnen sind telefonisch unter 07940 939951 erreichbar montags von 14 bis 17 Uhr und dienstags bis donnerstags von 9 bis 12 Uhr. Weitere Sprechzeiten nach Vereinbarung. E-Mail: infokoop@albert-schweitzer-kinderdorf.de. Mehr Infos: www.infokoop.de.


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