Zukunft der Pflege ist zentrale Aufgabe für die ganze Gesellschaft
Experten diskutieren beim AOK Gesundheitscheck über die Probleme im Pflege-System. Alle warten auf die große Pflegereform des Bundes.

Wie kann gute Pflege in einer alternden Gesellschaft gelingen, die heute bereits mit steigendem Betreuungsbedarf, Personalnot, einer defizitären Finanzierung seitens der gesetzlichen Pflegeversicherung und je nach Region fehlenden Heimplätzen konfrontiert ist? Wer bezahlt − und vor allem, wer pflegt, wenn schon 2040 mehr als 45 Rentnerinnen und Rentner auf 100 Erwerbstätige kommen?
Brisante Fragen wie diese hat Tanja Ochs, stellvertretende Chefredakteurin der Heilbronner Stimme, beim gemeinsamen Gesundheitscheck mit der AOK Heilbronn-Franken gestellt.
Alarmierende Antworten
Die Antworten der Podiumsteilnehmer waren teilweise alarmierend. Bernd Bareis, Geschäftsführer der HSH Hohenloher Seniorenhilfe GmbH in Öhringen, Harald Ebner, Bundestagsabgeordneter für die Grünen im Wahlkreis Schwäbisch Hall-Hohenlohe, Hans-Josef Hotz als Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK Baden-Württemberg und Jürgen Heckmann als stellvertretender Geschäftsführer der AOK Heilbronn-Franken: Sie alle warten auf die große Pflegereform des Bundes.
Die, so erhoffen es sich die Praktiker, soll das komplizierte Finanzierungsgeflecht von Pflege vereinfachen, Leistungen für pflegende Angehöriger transparenter machen, soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen, den Pflegeberuf aufwerten, etwa durch neue Berufsbilder, wie Harald Ebner vorschlug, die Pflegefachkräften mehr Kompetenzen zugestehen und ihnen dadurch zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen.
Besserverdienende zur Finanzierung der Pflege heranziehen
In einem waren sich alle Podiumsteilnehmer einig: Hier dreht es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Doch mit der Solidargemeinschaft sei es nicht weit her, sagt VdK-Funktionär Hans-Josef Hotz: "Warum muss die Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Pflegeversicherung niedriger sein als für die gesetzliche Rentenversicherung?", fragte er und forderte, beide Bemessungsgrenzen anzugleichen: Damit könne man mehr Besserverdienende zur Finanzierung der Pflege heranziehen.
Film zum Podium
Der AOK Gesundheitscheck ist eine Kooperation von AOK Heilbronn-Franken und Heilbronner Stimme und wird von Stimme.TV aufgezeichnet. Um den Film zu der aktuellen Podiumsdiskussion "Wie kann gute Pflege künftige aussehen?" zu sehen, klicken sie bei "Empfohlener redaktioneller Inhalt" auf "Akzeptieren".
Das Thema hat viele Facetten. Ein Drittel aller Bewohner in Stadt und Landkreis Heilbronn und im Hohenlohekreis verfügt über eigene Erfahrungen mit einer Pflegesituation. 13 Prozent kümmern sich aktuell zu Hause um eine pflegebedürftige Person, mit zum Teil hohen finanziellen und emotionalen Belastungen sowie Einschränkungen für das eigene Leben. Dabei würden pflegende Angehörige tatsächlich oft allein gelassen, sagt Hans-Josef Hotz. Der VdK hat in einer Befragung gezielt Daten von 56 000 Menschen gesammelt: "Die liegen jetzt vor." Und das Ergebnis sei ernüchternd: "Leistungen der Pflegeversicherung in Höhe von zwölf Milliarden Euro werden nicht abgerufen, weil die Menschen überfordert sind." Das System ist zu kompliziert: Auch das kritisieren alle Podiumsteilnehmer im AOK-Gesundheitszentrum.
Beratungsangebote machen
"Der Mensch braucht Beratung", fordert Hotz. Eine Leistung, die konfessionelle Anbieter, aber auch die Ersatz- oder Krankenkassen anbieten. Die AOK gehe hier verschiedene Wege, sagt Jürgen Heckmann: Man beschäftige Sozialarbeiter mit Zusatzausbildung, die über ein breites Wissen verfügten, nutze die eigenen Medien, um auf Beratungsangebote aufmerksam zu machen, und setze auf die Aufmerksamkeit der eigenen Mitarbeiter: "Sie sind darauf trainiert, eine komplexe Versorgungssituationen zu erkennen und zu reagieren." Gut 4,5 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Ein Großteil wird von den eigenen Angehörigen zu Hause versorgt. Trotz aller Belastungen: Das wünschen sich 60 Prozent auch für sich selbst.
Bei Betreuungsplätzen machen die Podiumsteilnehmer im Stadt- und Landkreis Heilbronn und im Hohenlohekreis allerdings ein in den zurückliegenden Jahren stark gewachsenes Angebot aus, etwa auch im Bereich der Tagespflege.
Modellversuche sollen Antworten liefern
Im Raum Heidelberg, wo er herkomme, sagt Hans-Josef Hotz, sehe die Situation anders aus: Dort fehlen Plätze. Wie eine gute Versorgung im Sinne der Angehörigen und der Pflegebedürftigen aussehen könne, dazu liefen derzeit einige Modellversuche, darauf machte Jürgen Heckmann aufmerksam. "Auf jeden Fall muss sich was bewegen", erklärt Harald Ebner: "Weil sich auch die Gesellschaft verändert."
Eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Pflege spielt das Personal. Mehr Geld, eine vernünftige Personalbemessung, weniger Dokumentationsaufwand und damit mehr Zeit für Betreuung und Zuwendung − das sind nur einige Stichworte zu der Frage, wie dem Nachwuchsmangel und der Fluktuation aus dem Beruf begegnet werden könne. Doch um die Mammutaufgabe "Pflege" stemmen zu können, brauche Deutschland auch Arbeitskräfte aus dem Ausland. Deren Abschlüsse werden oft nicht anerkannt, bemängelt Bernd Bareis. Er machte das am Beispiel einer philippinischen Krankenschwester fest, die gerade zum zweiten Mal durch die Anerkennungsprüfung gefallen sei und nun bangen muss, als qualifizierte Arbeitskraft abgewiesen zu werden: "Warum bekommt sie keine dritte und keine vierte Chance?", fragt der Heimbetreiber. "Da sind wir dran", verspricht Harald Ebner als Politiker.
Der erste AOK-Gesundheitscheck drehte sich im November 2021 um die Frage "Wie gefährlich ist Zucker?" Artikel und Film zur Veranstaltung finden Sie hier.