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April 2007
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Mord an Michèle Kiesewetter: Wie Heilbronner den dramatischen Tag erlebt haben

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Am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter auf der Heilbronner Theresienwiese ermordet. In einer Dokumentation begibt sich der SWR auf Spurensuche. So blicken Zeitzeugen auf den dramatischen Tag zurück.


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Der 25. April 2007, der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter auf der Heilbronner Theresienwiese: Für die Stadt war es ein traumatischer Tag. Fast jeder, der ihn in der Region erlebt hat, erinnert sich an Details, an Alarm, Unsicherheit, Straßensperrungen und den Verkehr, der zusammenbrach.

Mord an Polizistin Michèle Kiesewetter: SWR-Doku und anschließende Diskussionsrunde

Wir haben solche Erinnerungen zusammengetragen. Anlass ist eine neue Dokumentation, bei der sich der Südwestrundfunk auf Spurensuche begibt (Infos siehe unten).


Torsten Schlegel (Jugendtraining FC Union Heilbronn): Unsicher und ungläubig – so war Stimmung beim Training

Torsten Schlegel wollte auf dem Wertwiesengelände junge Fußballer trainieren, dann klingelte das Handy. Ein Anruf nach dem anderen kam an – mit einer Absage nach der anderen. Es gab kein Durchkommen mehr zum Fußballplatz, viele drehten um. Ein paar Jugendliche aus Heilbronn hatten es zwar geschafft, doch an diesem Nachmittag sagte er das U-15-Training beim FC Union Heilbronn ab, die Jugendlichen radelten nach Hause.

„Die Stimmung war komisch“, erinnert sich der 51 Jahre alte Erlenbacher. „Unwissenheit, Unsicherheit, Ungläubigkeit“: Es sei ein Ausnahmezustand gewesen. Überall Polizeisperren, eine kleine Hysterie habe in Heilbronn geherrscht. „Wir wussten nicht, was Sache war.“ Er konnte es nicht „richtig realisieren“, was damals geschehen war. Er arbeitete in der Benzstraße, kam gut durch zur Neckartalstraße. Auch nach dem Training musste er nicht in den Stau, er wohnte damals in einer Mitarbeiterwohnung auf dem Platz. „Für mich war es kein Problem.“ 

Karl Pommée, ehemaliger Chef der Galeria Kaufhof: So schnell wie möglich Richtung Autobahn

„Haben Sie schon gehört: Die wollen die Stadt abriegeln, machen Sie schnell.“ Karl Pommée, damals Chef der Galerie Kaufhof, hat den Satz seiner Mitarbeiterin noch im Ohr. Am Tag des Polizistenmordes stand bei ihm ein Einzelhändler-Forum in Konstanz auf dem Programm. Als er von der Tat auf der Theresienwiese erfuhr, machte er sich postwendend auf den Weg Richtung Autobahn. Doch der Rückstau vor der A81 reichte schon bis Donnbronn. „Kurzentschlossen bog ich ab, fuhr durch den Ort und kam bald bei Untergruppenbach wieder raus – wo Polizisten mit Maschinengewehren den Verkehr kontrollierten.“

Vor ihm sei lange ein Wohnmobil gestanden, „worüber ich mir zunächst keine Gedanken machte“. Sehr viel später aber sehr wohl: Denn erst als der Polizistenmord mit den NSU-Terroristen in Verbindung gebracht wurde, seien in den Medien Fotos mit deren Wohnmobil zu sehen gewesen. Der heute 77-jährige Pommée will nicht spekulieren, „aber es war dasselbe Modell“. 

Polizist Timo Peikert war an jenem Tag im Streifendienst: Autofahrer haben uns ihr Beileid ausgesprochen

Bereits auf der Fahrt zur Dienststelle breitete sich ein bedrückendes Gefühl bei Timo Peikert aus. Der heute 53-Jährige war damals Streifenbeamter im Schichtdienst beim Polizeipräsidium Heilbronn. Seine Frau habe ihn zuvor aufgeweckt und ihm erzählt, dass eine Kollegin in Heilbronn erschossen worden sei. „Als ich in der Diensstelle ankam, hatten vieler meiner Kollegen und ich Tränen in den Augen.“

Am Tattag seien bei der Polizei immer wieder Anrufe besorgter und verängstigter Bürger eingegangen, die Schüsse wahrgenommen haben wollen. „Mein Streifenkollege und ich sind dann rausgefahren. Manchmal waren auch zwei Streifen vor Ort.“

Die Bedrückung sei allerorten zu Spüren gewesen. Viele der Autofahrer, die in und um Heilbronn im Stau gestanden hatten, hätten der Polizei ihr Beileid ausgesprochen. Dass eine Kollegin ermordet wurde, habe ihn intensiver dazu veranlasst, Einsatz und Schießtraining, Selbstverteidigungs- und Erste-Hilfe-Kurse bei der Polizei wahrzunehmen. 

Cordula Stölzel (Bahnhofsmission Heilbronn): Die ganze Situation war irgendwie gespenstisch

„Die ganze Situation war irgendwie gespenstisch“, berichtet Cordula Stölzel, die heute die Bahnhofsmission am Heilbronner Hauptbahnhof leitet. „Am Himmel kreisten Helikopter, die Straßen waren verstopft, Bahnen und Busse voll, überall Polizei.“

Die heute 62-jährige Böckingerin erinnert sich noch sehr gut, wie sie an diesem April-Nachmittag an einer Bushaltestelle im Kreuzgrund nach dem Musikschulunterricht ihre achtjährige Tochter und deren Freundin abholen wollte. „Aber der Bus kam und kam einfach nicht. Ich wartete wohl eine Stunde lang, machte mir große Sorgen, dann erfuhr ich irgendwie, dass die beiden in der Kanalstraße feststeckten“, also im Bereich der späteren Bundesgartenschau. So schnell es ging, sei sie daraufhin mit dem Rad in die Stadt geeilt, vorbei an Staus und an Polizeikontrollen, bis sie die beiden Mädchen schließlich im Bus entdeckte und mit ihnen über die Peter-Bruckmann-Brücke vorbei am Gesundbrunnen den langen Weg nach Hause angetreten habe.  

Helmut Buchholz (Polizeireporter der Heilbronner Stimme): „Überall Blaulicht“: Der erste Reporter am Tatort

Von seinem Büro im zweiten Stock des Verlagshochhauses hatte Helmut Buchholz den besten Blick auf die Allee. „Gegen Mittag war plötzlich überall Blaulicht“, erinnerte sich der damalige Polizeireporter der Heilbronner Stimme an jenen 25. April 2007 – den Tag, der einer der aufregendsten seiner Journalistenlaufbahn werden sollte.

Anruf bei der Polizeipressestelle. „Kollege angeschossen“, hieß es zunächst. Buchholz fuhr sofort zur Theresienweise, war der erste Reporter vor Ort. „Es kamen immer mehr Leute, es war das totale Chaos.“ Schnell wurde klar: Die Polizistin Michèle Kiesewetter war tot, erschossen, die Hintergründe unklar. In der Allee war an diesem Tag die halbe Redaktion mit diesem Fall beschäftigt. Dann gab es angeblich noch einen Verdächtigen in der Austraße beim Druckhaus. SEK-Einsatz. Ob überhaupt eine Zeitung erscheint, war ungewiss. Sie erschien. In der Redaktion wurde eine Taskforce eingerichtet. Buchholz wusste: „Dieser Fall wird uns lange beschäftigen.“ 

Martin Powilleit (Leiter Werkssicherheit Telefunkenpark): Nach der Versammlung ging erstmal nichts

Ausgerechnet an jenem Tag war eine Betriebsversammlung beim Chiphersteller Atmel angesetzt, erinnert sich Martin Powilleit. „Das Unternehmen war damals noch groß, gut 600 Leute“, erzählt der damalige Leiter der Werkssicherheit auf dem Gelände des Telefunkenparks. Entsprechend groß war die Teilnehmerzahl, und hinzu kamen die Beschäftigten der weiteren Betriebe AIM, Azur Space, Vishay und FSG.

Von den Geschehnissen auf der nur wenige hundert Meter entfernten Theresienwiese bekamen die Belegschaften zwar nichts mit. Aber als dann die Betriebsversammlung beendet war, begann das Chaos. Powilleit selbst geriet sofort in den Stau, ausgelöst durch Sperrungen und Verkehrskontrollen. „Ich wollte über Böckingen und die Viehweide fahren, ich bin immer wieder umgedreht, aber es ging kaum voran“, erzählt er. „Erst auf der Autobahn ging’s.“ Bis er zu Hause in Neuenstein im Hohenlohekreis ankam, sollte es 23.30 Uhr werden. 

Heike Schokatz (Bürgermeisterin von Gundelsheim): Der Schock war bei allen Beteiligten groß

Am 25. April 2007 war Heike Schokatz auf das Bürgermeister-Forum der Heilbronner Stimme fokussiert. „Ich kandidierte damals für das Amt in Gundelsheim.“
Die Wahl Anfang Mai 2007 hat Schokatz gewonnen, aber der Tag des Wahlforums blieb ihr unauslöschlich in Erinnerung: „Die Nachricht von den Schüssen auf die beiden Polizisten und diesem schrecklichen Verbrechen hatte uns tief erschüttert. Der Schock war groß, bei mir persönlich und im ganzen Umfeld.“

Im Rückblick erinnert sich die Gundelsheimer Bürgermeisterin, die nunmehr in der dritten Amtszeit ist: „In solchen Momenten tritt alles Politische in den Hintergrund. Trotz der bedrückenden Stimmung habe ich an diesem Abend noch etwas das Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern gesucht.“

Das Forum wurde abgebrochen und dann am folgenden Tag nachgeholt. Für Heike Schokatz steht fest: „Die Erinnerung an diesen furchtbaren Tag bleibt bis heute.“  

 

„Warum starb Michèle Kiesewetter?“: SWR-Dokumentation und Diskussionsrunde

In einer Dokumentation begibt sich der Südwestrundfunk auf Spurensuche. SWR und Heilbronner Stimme präsentieren den Beitrag mit dem Titel „Warum starb Michèle Kiesewetter?“ vorab bei einer Preview mit anschließender Diskussionsrunde am Mittwoch, 8. Oktober, ab 19 Uhr im Redblue Heilbronn. Durch den Abend führen Uwe Ralf Heer, Chefredakteur der Heilbronner Stimme, und Stephanie Haiber, Moderatorin bei SWR Aktuell. Nach der Vorführung der Doku diskutieren Innenminister Thomas Strobl, Verena Fiebig – wissenschaftliche Referentin Rechtsextremismus bei Konex BW, der ehemalige Kriminaloberkommissar Peter Fink und Helmut Buchholz, der 2007 den Fall für die Heilbronner Stimme als Reporter verfolgte. Außerdem auf dem Podium sind SWR-Redakteur Jens Nising, Iris Bilek und Lukas Pfeifer von der Gewerkschaft der Polizei BW sowie Thomas Reutter und Theo Heyen, die an der Dokumentation mitgearbeitet haben.

Die Teilnahme ist kostenfrei, jedoch nur nach vorheriger Anmeldung möglich. Anmeldung ist möglich über den Link auf swr.de. Die Heilbronner Stimme wird über den Abend ausführlich berichten. 

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