Pogromnacht gegen Juden 1938: Was in Heilbronn verloren ging
Am 9. und 10. November 1938, also vor 84 Jahren, steckten Nazis überall in Deutschland jüdische Gotteshäuser in Brand. In der sogenannten Reichspogromnacht ging an der Heilbronner Allee mehr als eine wunderschöne Synagoge verloren.

Eine Thorarolle lagert in Baltimore. Ein Schächtmesser und drei Fensterfragmente sind im Heilbronner Otto-Rettenmaier-Haus ausgestellt. Die vielen Sandsteine hat man kurzerhand in Weinbergmauern verbaut und im heutigen Botanischen Obstgarten verwendet. Jahre später, 2018, tauchten bei einer Auktion in den USA zwei Schrank- oder Türgriffe auf, die inzwischen den Weg zurück nach Heilbronn gefunden haben.
Und an der Allee 4 selbst, dem ehemaligen Standort, erinnert neben einer stählernen Kuppel-Skulptur ein ganz in schwarz gefasster, angekohlter Sandstein an das zerstörte Gotteshaus. An diesem Mittwoch wird dort nach einer Gedenkfeier, die um 19.15 Uhr am benachbarten Max-Beermann-Platz beginnt, ein Kranz niedergelegt.
Heute vor 84 Jahren, in der Nacht vom 9. auf 10. November, brannten überall in Deutschland Synagogen, 1400 an der Zahl, auch in Heilbronn. Jüdische Bürger wurden vom braunen Mob gedemütigt, ihre Geschäfte demoliert. Die Reichspogromnacht ist das zynische Vorspiel zur systematischen Verfolgung und Vernichtung von Millionen Menschen jüdischen Glaubens. Erst seit der jüngsten Jahrhundertwende hat sich in Heilbronn wieder eine jüdische Gemeinde etabliert. Vor knapp 20 Jahren fand sie an der Allee Gebetsräume, direkt gegenüber der 1940 endgültig dem Boden gleichgemachten Synagoge. Manche träumen bis heute von einem Neubau.
Was von damals übrig blieb
Fragmente, Bilder, Pläne, nicht viel mehr: Das ist von dem Gotteshaus der einst 600 Mitglieder starken jüdischen Gemeinde übrig geblieben. Das 1873 bis 1877 errichtete Gebäude gilt als ein Höhepunkt der neo-orientalischen Stilphase im Synagogenbau. Mit 1000 Plätzen war es das größte jüdische Gotteshaus in Württemberg.
Und: Es war so schön, dass es der Staat Israel 1988 verewigte: auf einer Briefmarke „50 Years after Kristallnacht“. Im Internet kursieren historische Postkarten, ja sogar Baupläne und eine digitale Visualisierung, aber auch allerhand Wortbeiträge. Eine umfassende Würdigung ihrer architekturgeschichtlichen Bedeutung legte im Sommer 2022 Gabriele Holthuis vor, in dem vom Stadtarchiv edierten Werk „Jüdisches Leben in Heilbronn“.
Spannende Baugeschichte
Den Baubeschluss fasste die nach Jahrhunderten der Unterdrückung scheinbar fest im gesellschaftlichen Leben etablierte und gut vernetzte jüdische Gemeinde 1872, also vor genau 150 Jahren. Doch durch Baukostensprünge auf 372.778 Mark und Spannungen zwischen liberalen und orthodoxen Mitgliedern, die 1910 zur Spaltung der Gemeinde führten, verzögerte sich der Spatenstich auf 1873.
Der Entwurf des in Esslingen geborenen Architekten Christoph Adolf Wolf ging aus einem Wettbewerb hervor. Er stach renommierte Mitbewerber aus, weil er am meisten Erfahrung auf „diesem Sonder-Gebiete“ hatte und bald europaweit einen guten Ruf genoss: von Karlsruhe über Stuttgart und Nürnberg bis Karlsbad, Lodzs/Polen und Russland.
Rasante Stadtentwicklung
Den Stadtvätern der damals aufblühenden Industrie- und Handelsmetropole am Neckar passte ein repräsentatives neues Bethaus gut ins Konzept. Städtebaulich fügte es sich in Reinhold Baumeisters Generalbauplan mit dem repräsentativen Stadtboulevard Allee ein: zwischen Harmonie und Stadtbad und in direkter Nachbarschaft zu großbürgerlichen Villen. Zudem wollte die Stadt weiter wachsen und wusste, so Kunst- und Kulturhistorikerin Holthuis, dass sie mit monumentaler Architektur „sichtbares Zeichen setzen und überregional wahrgenommen werden konnte“.
Am Abend der Einweihung, Freitag, 8. Juni 1877, stieg in der kurz zuvor fertiggestellten Harmonie ein Ball. Allen voran erkannte Oberbürgermeister Karl Wüst, dass die jüdische Bevölkerung viel „zum Aufblühen“ der Stadt beigetragen habe und mit dem Synagogenbau nun gleichberechtigt neben den anderen Konfessionen stehe. Doch die latente Judenfeindlichkeit nahm nach dem Ersten Weltkrieg zu.
Zum 50-jährigen Bestehen der Synagoge 1927 beklagte Bankier Siegfried Gumbel, es sei „ein schlimmes Verhängnis, wenn man das Opfer werden soll von Rassendünkel und Rassenwahn“. Mit der Machtergreifung Hitlers 1933 eskalierten die Anfeidungen, um in der Pogromnacht 1938 einen – nur vorläufigen – Höhepunkt zu finden.
Augenzeugenbericht war lange unter Verschluss
Im Tagebuch von Oberbürgermeister Emil Beutinger (1885-1957), das erst seit 2018 im Stadtarchiv eingesehen werden darf, finden sich Sätze wie diese: „Am 10. November brannte morgens die Synagoge ab. Um 7.15 Uhr war die Kuppel eingestürzt und es brannte im Inneren weiter – Brandstiftung. Um halb 4 Uhr morgens ertönten schwere Schläge wie Kanonenschläge, das waren Brandbomben. Die Feuerwehr sah untätig zu. Es war die Rache des Volkes über den Mord an dem Botschaftsrat vom Rath in Paris. Nachmittags um 4 Uhr wurde ich telefonisch gewarnt, nicht nach Hause zu gehen – ich würde überfallen werden. In der Nacht hatte man Schaufenster der Judengeschäfte eingeschlagen. Der Mob vergnügte sich. Einzuschreiten getraute sich niemand – ebenso wenig wie die Polizei, welche teilnahmslos zusah. Wer aber etwas zu äußern wagte, wurde verhaftet. Alle erwachsenen jüdischen Männer unter 60 Jahren wurden ins Konzentrationslager gebracht.“



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