Zuletzt hatte es mehrere Überflüge mutmaßlicher russischer Drohnen über deutschem Territorium gegeben. Das sei eine neue Art von Bedrohung, die bislang noch nicht Teil der Ausbildung im Heimatschutz gewesen ist, sagt Oberstleutnant Marc Hansmann. Zunächst gehe es darum, mit den Reservisten die Grundlagen einzuüben, etwa wie man sich mit der Truppe im Gelände bewegt. Andere Ausbildungselemente wie der Umgang mit Drohnenüberflügen oder möglichen Ausspähangriffen würden darauf aufbauen.
So bereitet sich eine Heimatschutzkompanie auf die Landesverteidigung vor
Während in Berlin über eine Wehrpflicht diskutiert wird, üben 100 Reservisten der Bundeswehr freiwillig den Heimatschutz. Sie sehen das als ihre Pflicht als Staatsbürger. Ein Besuch bei der Truppe im pfälzischen Germersheim.
Die Sonne scheint warm über der Südpfalzkaserne in Germersheim, das Laub der Buchen auf dem Gelände leuchtet golden. Männer mit umgehängten Waffen durchstreifen langsam die Gegend, einige postieren sich an nachgebauten Einfahrtschleusen für Autos und Lastwagen, die Waffen im Anschlag. Leise werden Absprachen getroffen, höchste Konzentration.
Drei Einsatzszenarien werden auf dem Gelände der Südpfalzkaserne geübt
Plötzlich bricht Geschrei los. „Ihr Schweine, ihr Arschlöcher.“ Ein Mann, der vor dem Kontrollpunkt am Boden sitzt, schleudert den Männern in tarngrün unflätige Beschimpfungen entgegen, wird immer aggressiver und lauter, windet sich auf dem Boden. Ein zweiter Mann filmt die Szene. Es ist eines von drei Einsatzszenarien mit Laiendarstellern, das die etwa 100 Männer und zwei Frauen der Heimatschutzkompanie Oberrhein an diesem Wochenende auf dem Kasernengelände durchspielen.

Am Freitagnachmittag sind die Freiwilligen zum Dienst angetreten, bis Sonntag üben sie in Gruppen von jeweils 30 Mann Aufgaben der Landesverteidigung: ein Gelände durchstreifen bei unklarer Gefahrenlage, Häuser durchsuchen, Fahrzeuge kontrollieren. Im Bündnisfall wären die Reservisten für solche Aufgaben zuständig: den Schutz kritischer Infrastruktur und militärischer Einrichtungen im Inland und die Unterstützung von Truppenbewegungen befreundeter Nationen auf deutschem Boden. Deutschland wäre in einem solchen Fall Aufmarschgebiet und Drehscheibe für Truppen der Nato.
30 Übungstage im Jahr – Oberstleutnant: „Für das Geld macht das hier niemand“
30 Übungstage hat Kompaniechef Oberstleutnant Marc Hansmann dafür pro Jahr angesetzt. „Ich hätte gerne, dass meine Leute etwa bei der Hälfte davon dabei sind“, sagt er. Hansmann ist im zivilen Leben Berufsschullehrer und selbst Reservist. Nach seinem Wehrdienst Ende der 1990er-Jahre sei er bei der Truppe geblieben, erzählt er. „Mir gefällt es in Deutschland, ich setze mich gern ein für das Land, bin dankbar für Chancen wie ,Aufstieg durch Bildung.‘“
Auch das Erlebnis in der Gruppe und die Kameradschaft seien ihm wichtig. „Wir bekommen 27,50 Euro pro Tag, für das Geld macht das hier niemand“, sagt der 48-Jährige, der seit drei Jahren Chef der Kompanie ist.

Unterkünfte für die Reservisten-Truppe sind schwer zu organisieren
Seine Aufgabe ist es damit auch, die Übungen zu organisieren. Leicht ist das unter den gegebenen Voraussetzungen nicht. Vor allem eine Unterkunft zu finden, sei aufwendig. In die Kaserne können die Reservisten nicht, denn die Räume sind unter der Woche von Soldaten belegt. Der Aufwand, die Stuben für die Reservisten freizuräumen, wäre zu hoch. Also ist ein Teil der Kompanie diesmal in einer Turnhalle in Bruchsal untergekommen, manche schlafen auch zu Hause.
Hansmann hat Feldbetten für die Übernachtung in der Halle organisiert und aufgebaut und außerdem Stühle, auf denen die Männer ihre Ausrüstung ordentlich ablegen können. Es werde noch dauern, bis die „Zeitenwende“ greift, sagt er.

Der Heimatschutz muss nach der „Zeitenwende“ erst wieder aufgebaut werden
Nach Ende des Kalten Krieges war der Heimatschutz in Deutschland systematisch zurückgefahren worden. Hauptaufgabe der verbliebenen Kräfte war die Unterstützung ziviler Organisationen, zum Beispiel bei Naturkatastrophen. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich das geändert. Den Heimatschutz-kompanien kommt eine wichtige Rolle für die Landesverteidigung zu. Die Strukturen, die es dafür braucht, müssen aber erst noch geschaffen werden. Fünf Heimatschutzregimenter mit insgesamt 6000 Kräften gibt es derzeit, Militärplaner halten aber mindestens eine hohe fünfstellige Zahl für nötig. „Das wird ohne einen Wehrdienst nicht möglich sein“, sagt Hansmann. Die meisten seiner Männer seien so um die 40 Jahre alt, jüngere kämen nur wenige nach.
Wer an diesem Wochenende in Germersheim dabei ist, ist es aus freien Stücken. Die Teilnehmer kommen entweder aus dem „Projekt Ungediente“ und haben einen Kurzlehrgang für den Heimatschutz durchlaufen oder sie haben früher einen mehrmonatigen Wehrdienst absolviert.

Heimatschutz-Übung in Germersheim: Im zivilen Beruf ist einer der Männer Musikschulleiter
Obergefreiter Thilo (Nachnamen sollen nicht genannt werden, Anm. d. Red.) aus einem Heilbronner Stadtteil sagt, er habe Zivildienst geleistet, wollte aber eigentlich schon immer zur Bundeswehr, um zu helfen, auch im Ernstfall. „Die Lage hat sich mit dem Ukraine-Krieg zugespitzt. Mir ist bewusst, dass ich im schlimmsten Fall mein Land auch mit der Waffe verteidigen muss.“
Heiko aus dem Remstal leitet im zivilen Leben eine Musikschule. Eigentlich seien die beiden Aufgaben gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es auf den ersten Blick scheint, sagt der 46-Jährige: „Soldaten und Musiker sollten gut hören können und brauchen Rhythmusgefühl.“ Heiko sagt, der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine sei für ihn, den Ungedienten, „der letzte Weckruf“ gewesen: „Unsere Demokratie kann nur funktionieren, wenn wir uns dafür einbringen. Wir brauchen mündige Bürger.“ Aus diesem Bewusstsein sei er hier.
Die Abläufe müssen sitzen, deshalb wird regelmäßig geübt
Zurück am Kfz-Kontrollpunkt beschimpft der Aufrührer die Männer immer heftiger, aber niemand greift ein. Ein wartender Bundeswehr-Transporter kann nicht passieren. „Das dauert viel zu lange“, sagt Kompaniechef Hansmann, der die Lage aus der Ferne beobachtet. Irgendwann haken zwei Reservisten den Krawallmacher unter und tragen ihn weg. „Sie hätten früher reagieren müssen, denn das hat den Ablauf der Kaserne gestört“, erklärt Hansmann. Berechtigte Fahrzeuge müssten jederzeit passieren können, aber die Unsicherheit sei spürbar gewesen. „Genau deswegen üben wir, damit sowas sitzt.“