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Wie sich Lore Dehnhardt (87) an die schrecklichen Stunden vom 4. Dezember erinnert

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Im Alter denkt Lore Dehnhardt oft daran zurück, wie sie 1944 bei der Bombardierung Heilbronns ihre Mutter und ihren Bruder verlor. Psychotherapeuten sprechen von einer Reaktivierung des Traumas.

Lore Dehnhardt an ihrem Esszimmertisch in Sontheim: Das Foto, das sie hält, stammt aus dem Jahr 1944 und zeigt sie als fünfjähriges Mädchen mit ihrer Mutter Frieda Lina und ihrem Bruder Erich.  Bei der Bombardierung Heilbronns am 4. Dezember 1944 starben 6500 Menschen.
Lore Dehnhardt an ihrem Esszimmertisch in Sontheim: Das Foto, das sie hält, stammt aus dem Jahr 1944 und zeigt sie als fünfjähriges Mädchen mit ihrer Mutter Frieda Lina und ihrem Bruder Erich. Bei der Bombardierung Heilbronns am 4. Dezember 1944 starben 6500 Menschen.  Foto: Archiv/Hoffmann

Jeden 4. Dezember, wenn die Glocken schlagen zur Erinnerung an die Toten, erlebt Lore Dehnhardt, geborene Geldner, die Bombardierung Heilbronns erneut. "Mir läuft es eiskalt den Rücken runter", sagt sie. Sie fürchte sich vor diesen Minuten, und sie liege die Nacht danach im Bett und weine. Noch immer, noch heute - erst recht jetzt, wo die Kinder schon so lange aus dem Haus sind, ihr Leben so weit fortgeschritten und sie zuhause alleine ist.

Was die 87 Jahre alte Frau aus Sontheim durchmacht, nennt sich Reaktivierung eines Traumas. Viele Menschen in hohem Alter, die als Kinder den Krieg erlebt haben, leiden. Darüber sprechen reicht nicht. Im Grunde ist eine therapeutische Behandlung nötig, sagt Dr. Harald Schickedanz von der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation in Bad Dürrheim. "Das Trauma muss bearbeitet werden." Die meisten Betroffenen haben die Brutalität ihres erlebten Verlusts ihr Leben lang verdrängt. Ein plötzliches sich zurückversetzt fühlen in frühere Erlebnisse nennt sich Flashback. Es ist "wie ein Abszess in der Seele", sagt Schickedanz.

 


Immer wieder erzählt sie vom Schrecken

"Weggeschoben habe ich das", sagt Lore Dehnhardt. Zu sehr geschmerzt hat es all die Jahre. Sie wusste es, sie wollte es aber nicht mehr fühlen. Wie sehr das, was vor fast 80 Jahren geschah, sie noch immer belastet, erfährt auch Gudrun Dörr, die Vertrauensperson der Martin-Luther-Kirche ist und bei Dehnhardt den Pfarrbrief vorbeibringt. "Immer erzählt sie davon", sagt Dörr.

In der Sichererstraße 17 hat Lore Dehnhardt in ihren ersten Lebensjahren gewohnt. Heute befindet sich dort das Technische Schulzentrum. Die kleine Lore wohnte damals mit ihrem dreijährigen Bruder Erich und ihrer 34 Jahre alten Mutter Frieda Lina im zweiten Stock eines dreistöckigen Gebäudes. Unter ihnen lebte das Bäckerehepaar Wolf, über ihnen das Rentnerpaar Sommer. Immer wieder saßen sie, nicht nur bei Fliegeralarm, zusammen im Keller. Daran erinnert sich Lore Dehnhardt noch. "Wir waren so eine liebe Hausgemeinschaft."


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Letzte Momente am 4. Dezember 1944

Am Abend des 4. Dezember 1944, drei Tage vor ihrem sechsten Geburtstag, saßen sie wieder beisammen. Eng und verängstigt. Die Eheleute Wolf, bei denen sie in der Backstube immer auf dem Schemel hockte und als kleine Bäckergehilfin beliebt war, hatten ihrer Mutter bereits vor längerer Zeit gesagt: "Wenn etwas passiert, schütze dich und den Bub - wir kümmern uns um Lore." Einer der Männer ging nach den ersten Einschlägen nach oben.

 


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Er kam zurück und forderte alle auf, den Keller zu verlassen. Das Gebäude stürze zusammen, hatte er gemeint. Ihre Mutter Frieda Lina ging als erste zur Eisentreppe, die aus dem Keller führte. Sie hatte ihren Bruder Erich im Arm. Ihre Mutter schaute nach vorne, Erich hat den Kopf zu seiner Schwester nach hinten gerichtet. "Er hat mich ganz ängstlich angeschaut", sagt Lore Dehnhardt. Es war das letzte Mal, dass sie ihn und ihre Mutter sah.

Sie verließ mit den Eheleuten Wolf den Keller, nur wenige Sekunden später. Draußen war der Himmel grell, "ein grässlicher Anblick". Auf der Straße klaffte ein Loch. Sie suchten Schutz darin und lagen eng beieinander. Lore Dehnhardt kann sich erinnern, dass ihr jemand einen nassen Bademantel umlegte. Sie solle ihn anlassen, das schütze gegen Phosphor, habe man ihr gesagt. Als sie sich nach dem Angriff aus dem Loch trauten, hielten ihr Wolfs die Augen zu. Überall lagen Leichen, "ich wollte schauen, ob ich meine Mutter finde", sagt Lore Dehnhardt. Sie brachen auf in Richtung Weinsberg, zu Fuß über den Sattel. Da hatten sie jemanden, wo sie übernachten konnten. Auf dem Sattel habe sie sich umgedreht und nach Heilbronn geschaut. "Alles war ganz hell, ganz grell, ein Flammenmeer. Schaurig war das", sagt Dehnhardt.

 


 

"Neue" Familie

Erich war ihr einziges Geschwisterkind. Vater Karl Georg befand sich zu diesem Zeitpunkt in russischer Kriegsgefangenschaft. Die kleine Lore zog zu ihrer Tante nach Neckargartach und lebte dort wenige Jahre. Sie erinnert sich noch, wie die überlebenden Nachbarn aus der Sichererstraße 17 mit ihr litten. Rentner Sommer konnte gut Schreinern und baute ihr zu Weihnachten 1944 eine Puppenstube. "Sie war so schön, mit ihr wollten alle spielen." 1947 kam ihr Vater aus der Gefangenschaft zurück. Er nahm seine Tochter mit in die Sichererstraße. Er ging den Keller hinab. "Mein Vater, er hat sich irgendwie von seiner Familie verabschieden müssen", sagt Lore Dehnhardt. Sei selbst war nur dieses eine Mal mit ihm in der Sichererstraße 17, nicht ein einziges Mal vor seiner Rückkehr und nach diesem Mal auch nie wieder in ihrem langen Leben.

Ein Jahr später kam Vater Karl Georg mit einer Kriegswitwe zusammen, die bereits drei Kinder hatte. So fand auch sie selbst "eine neue Familie", wie Lore Dehnhardt heute sagt. Sie habe sogar Mutter zur neuen Frau ihres Vaters sagen dürfen, und das habe sie gerne gemacht. "Ich habe aber nie mit dem Ganzen abschließen können. Ich habe meinen Bruder und meine Mutter nie vergessen." Im Alter werde ihr das besonders bewusst. Jahrelang sei sie noch mit ihrem Vater zum Gedenken auf den Ehrenfriedhof gegangen. Aber wohl fühlte sie sich dort nie. "Sie würde sich einen Platz wünschen, an dem sie um ihre Familie trauern kann", sagt Gudrun Dörr von der Martin-Luther-Kirche. Ihr Vater ist heute begraben bei seiner Frau und den Kindern, die er später im Leben als Witwer fand.

 


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Nachts wach

Naja, eine Kleinigkeit besitzt sie doch: Sechs Kaffeelöffel. Sie waren in einer Tasche ihrer Mutter, die man gefunden hat. Diese Kaffeelöffel sind noch heute in ihrer Küche und kommen täglich zum Einsatz.

Für Lore Dehnhardt ist klar, warum sie sich heute mehr mit ihrem Kindheitstrauma beschäftigt als je zuvor. Nur durch das jahrelange Ausblenden konnte sie überleben, ein "normales" Familienleben führen. Sie bekam selbst zwei Kinder. Ihre Tochter Angelika Killer, die heute bei Ingolstadt lebt, erinnert sich, dass der Verlust ihrer Mutter immer wieder Thema war auch früher schon. "Sie konnte das schon immer so erzählen, dass man glaubte, dabei gewesen zu sein", sagt Killer (59). Auch sie ist der Ansicht, dass ihre Mutter ihr Schicksal lange verdrängt hat. Das Problem sei nicht nur, dass ihre Mutter im Alter allein lebe, sondern auch aktuelle Entwicklungen wie der Krieg in der Ukraine. Ihre Mutter habe ihr Trauma ein Stück weit an sie weitergegeben, meint Angelika Killer. Früher habe sie selbst, obwohl sie den Angriff nur aus Erzählungen kennt, beim Sirenenalarm oder bei Übungen von Militärfliegern immer wieder Angst bekommen.

 

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Wenn Traumata nicht bearbeitet werden, könnten sie über Generationen weitergegeben werden, sagt auch Therapeut und Reha-Klinikleiter Schickedanz (65). Er sei selbst ein Kind der 60er Jahre und wisse daher aus eigener Erfahrung, welche psychologischen Folgen Krieg mit sich bringt. Die Erwachsenen in seinen Kindheitstagen trugen wohl fast alle ihre Belastungen mit sich und unbearbeitete Probleme.

Lore Dehnhardt sagt mit ihren 86 Jahren: "Ich habe gedacht, dass man vergessen kann. Aber das ist nicht so." Jetzt ist sie allein, gesundheitlich angeschlagen. Sie geht an Krücken, ihr Pflegebett steht im Wohnzimmer. Silvester sei auch so schlimm, sagt sie. Sie habe die Decke über den Kopf gezogen und gerufen, sie sollten doch bitte aufhören damit. Es komme auch vor, dass sie nachts aufwache. "Und dann sehe ich meine Mutter vor mir."

 
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