Wie hoch das Infektionsrisiko im Freien ist
Maskenpflicht in der Innenstadt, Ausgangssperre, muss das sein? Professor Jennifer Niessner von der Hochschule Heilbronn erklärt die wichtigsten Erkenntnisse aus der Aerosolforschung zum Thema Ansteckungen im Freien und warum die Gefahr draußen gering ist.

Die Wahrscheinlichkeit, sich im Außenbereich mit dem Coronavirus anzustecken, ist gering. Das ist immer wieder in den Nachrichten zu hören und zu lesen. Aber wie gering, und welche Maßnahmen sind im Freien dann angemessen? Professor Jennifer Niessner von der Hochschule Heilbronn gibt einen kleinen Einblick in den wissenschaftlichen Stand der Dinge. Sie ist Direktorin des Instituts für Strömung in additiv gefertigten porösen Strukturen und sitzt zusammen mit zehn anderen baden-württembergischen Wissenschaftlern in einem Expertenkreis, der die Landesregierung zum Thema Aerosole berät.
Wie kann man sich im Freien anstecken?
Generell gibt es zwei Wege, sich anzustecken, "indirekt und direkt", erläutert Professor Niessner. Indirekte Infektionen erfolgen nur in Innenräumen. Sie heißen dann auch Cluster-Infektionen oder Superspreading-Events. Indirekt bedeutet, dass man sich auch ohne unmittelbaren Kontakt zu einer anderen Person anstecken kann. "Wie groß die Gefahr einer indirekten Infektion ist, hängt von vielen Faktoren ab, etwa der Größe des Innenraums, der Personenzahl, deren Aufenthaltsdauer und Aktivität, also ob sie sprechen, singen, schreien oder Sport betreiben", sagt Niessner. Je höher die Konzentration der infektiösen Aerosole und je weniger zum Beispiel gelüftet wird, desto höher das Risiko. Direkte Infektionen hingegen können auch im Außenbereich erfolgen. Direkt heißt: Person A stößt belastete Partikeln aus und Person B ist ihnen direkt ausgesetzt, atmet sie ein und infiziert sich.
Ist das wahrscheinlich?
Laut der Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) liegt das Risiko einer Ansteckung im Freien im Promillebereich, ist also sehr unwahrscheinlich. 99,9 Prozent aller Infektionen passieren laut den Forschern in Innenräumen. "Das Luftvolumen im Freien ist quasi unendlich groß, und eine Durchmischung der Aerosole mit Frischluft passiert schnell", sagt Jennifer Niessner. Allerdings sei die reale Situation sehr komplex, es komme auch auf den Abstand der Personen an, wie ansteckend sie sind und ob sie eine Maske tragen.
Spielt das Wetter eine Rolle beim Infektionsrisiko im Freien?
Die Sonne habe auf jeden Fall einen positiven Effekt, erklärt Niessner. Denn Sars-Cov-2 ist empfindlich gegenüber UV-Strahlung, kann so also unschädlich gemacht werden. Nicht klar sei, ob allein das sonnige Wetter zu weniger Infektionen führe, oder das Verhalten der Menschen auch maßgeblich dazu beitrage. "Menschen halten sich bei schönem Wetter weniger in Innenräumen auf. Außerdem sind die Schleimhäute durch weniger Heizungsluft weniger trocken", so die Wissenschaftlerin. Viel Wind kann das Infektionsrisiko ebenfalls senken, denn "die Vermischung mit Frischluft wird durch Wind angeregt", sagt Niessner. Allerdings könne der Wind auch ungünstig wehen und direkte Infektionen draußen begünstigen.
Raucher riecht man draußen auch aus größerer Distanz, sogar durch eine FFP2-Maske. Können corona-belastete Aerosole nicht ähnlich weit "fliegen" wie die Rauchpartikeln und die Maske durchdringen?
Im Prinzip ja. "Kleine Partikeln können lange in der Schwebe bleiben", sagt Niessner. Manche Aerosole, wie im Fall des Zigarettenrauchs, seien durch den Geruch wahrnehmbar. Ihre Konzentration in der Luft sei aber zu gering, um eine Gefahr darzustellen. Die FFP2-Maske bietet zusätzlichen Schutz. Allerdings ist sie immer noch "nur" ein Filter. Ungefähr zehn von 1000 Partikeln durchdringen sie nach Angaben der Wissenschaftlerin, sonst könnten wir durch den Mund-Nasen-Schutz nicht richtig atmen. "Man riecht den Raucher also, aber weniger intensiv als ohne Maske", sagt Niessner. Außerdem würden Masken nie ganz perfekt sitzen und seien so auch kein Allheilmittel. Befindet man sich in einem ungelüfteten Raum für längere Zeit, kann man sich trotz Mund-Nasen-Schutz anstecken. "Deshalb ist es wichtig, zusätzlich die Partikelkonzentration in Innenräumen zu senken", sagt Niessner.
Wie sinnvoll sind die Maßnahmen für draußen dann überhaupt?
Das ist eine politische Frage. In der Heilbronner Innenstadt etwa können teilweise große Abstände nicht eingehalten werden. Dann ist es Abwägungssache, ob etwa eine Maskenpflicht angemessen ist, um die sehr wenigen direkten Infektionen im Außenbereich zu verhindern. Die Ausgangssperre ist für Jennifer Niessner ein zweischneidiges Schwert. "Wenn sie dazu führt, dass sich Menschen nicht in Innenräumen treffen, ist sie sinnvoll." Kontraproduktiv sei sie nur, wenn Bewegung an der frischen Luft durch sie erschwert werde. Aufgabe des interdisziplinären Expertenkreises, in dem Niessner sitzt, ist es unter anderem, Empfehlungen abzugeben und den Entscheidungsträgern zu helfen, die Faktenlage zu überblicken.
Kommentar: "Reingehsperre
Von Annika Heffter
Die meisten Infektionen passieren in Innenräumen. Politische Maßnahmen sollten das widerspiegeln.
Die Erkenntnisse der Aerosolwissenschaftler zeigen: Die Gefahr einer Corona-Infektion lauert im Innenraum, fast ausschließlich sogar. Einige werden jetzt "Hurra!" rufen: Weg mit der Maskenpflicht im Freien, weg mit der Ausgangssperre, ab in den Biergarten. Und natürlich ist es wichtig, unter Berücksichtigung solcher Informationen bestimmte Einschränkungen im Außenbereich zu hinterfragen.
Genauso gehört aber auch dazu, darüber zu diskutieren, was denn bei den Maßnahmen im Innenraum so falsch läuft. Denn da infizieren sich offenbar die allermeisten Menschen. Wenn eine Stunde im stickigen Großraumbüro riskanter ist als ein Tagesausflug mit Picknick im belebten Park, dann sollte sich das auch in den politischen Entscheidungen widerspiegeln. Sagen wir doch Reingehsperre statt Ausgangssperre, damit die Sachlage jedem absolut klar wird. Immerhin ist der Sinn der Ausgangssperre, nächtliche Treffen und Partys im Innenraum zu verhindern. Politisch ließe sich außerdem noch viel mehr umsetzen: Home-Office-Pflicht für alle, bei denen es möglich ist, Innenraumluftfilter für Schulen und Fabriken mit vielen Arbeitern in Produktionsräumen, Plexiglas-Trennwände und CO2-Messgeräte, wo Kontakte nicht vermieden werden können. Nicht nur jeder Einzelne ist gefragt, Hygieneregeln einzuhalten, nein, es muss auch Geld für konkrete baulich-technische Schutzmaßnahmen in die Hand genommen werden. Spätestens jetzt, nachdem sich nicht mehr abstreiten lässt, dass stündliches Stoßlüften allein nicht reicht.
In einem offenen Brief an die Regierung fordert die Gesellschaft für Aerosolforschung dazu auf, begrenzte Ressourcen nicht "auf die wenigen Promille der Ansteckungen im Freien" zu verschwenden. Das fasst es gut zusammen.




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