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Heilbronn
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Vom Für und Wider der Fußgängerzone

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Die Idee der autofreien Innenstadt entzweit Einzelhändler und Bürger. Dabei ist die Diskussion über die Heilbronner Lohtorstraße nicht neu: Einst stritten die Heilbronner um die autofreie Kaiserstraße - mit ähnlichen Argumenten. Eine Sache macht die Frage heute aber komplizierter.

Von Bärbel Kistner
Unvorstellbar! Dreispurig rollen die Autos 1974 über den Kiliansplatz, der zudem als Parkfläche genutzt wird. Ein kleines Fleckchen (vorne im Bild) ist in der Adventszeit Fußgängerbereich.
Foto: Hermann Eisenmenger
Unvorstellbar! Dreispurig rollen die Autos 1974 über den Kiliansplatz, der zudem als Parkfläche genutzt wird. Ein kleines Fleckchen (vorne im Bild) ist in der Adventszeit Fußgängerbereich. Foto: Hermann Eisenmenger  Foto: Eisenmenger

Der verkaufsoffene Sonntag am 1. Oktober 1971 brachte der Heilbronner Innenstadt eine kleine Sensation: Zum ersten Mal gab es eine Fußgängerzone. Probeweise zwischen 9 und 18 Uhr wurde die Fleiner Straße zwischen Deutschhofstraße und Kiliansstraße für den Autoverkehr gesperrt. Das Wort Fußgängerzone setzte die Heilbronner Stimme in Anführungszeichen, so unvorstellbar war es damals, die Autos aus der Stadt auszusperren.

Weil man zunächst Erfahrungen mit der neuen Regelung sammeln wollte, sollte das Fußgängerzonen-Experiment 1971 an den Samstagen bis Weihnachten wiederholt werden und zudem noch an mehreren Tagen im Dezember. Zur Erinnerung: Läden mussten unter der Woche um 18.30 Uhr schließen. Erst seit 1960 durfte an Adventssamstagen bis 18 Uhr eingekauft werden.

Der Erfolg des Experiments im Herbst vor 47 Jahren ließ nicht nicht lange auf sich warten, und die Verwaltung reagierte prompt: Die Fleiner Straße blieb bereits im November jeden Tag vom Autoverkehr verschont. Anfangs nahmen Passanten ihre neue Zone eher zaghaft in Besitz, wie die Stimme berichtete, doch schon bald hatten sich die Bürger daran gewöhnt, sich auf der ehemaligen Fahrbahn unbehindert bewegen zu können. Der Kiliansplatz war zu diesem Zeitpunkt noch Verkehrsknotenpunkt in der Innenstadt. Der Verkehr rollte dreispurig, am Rand wurde geparkt.


"Selten wurde im Heilbronner Gemeinderat ein bedeutendes Projekt so einmütig befürwortet wie der endgültige Ausbau der Fußgängerzonen Fleiner Straße und Sülmerstraße", schrieb die Stimme im Jahr 1975. Einstimmig befürwortete das Gremium den 3,45 Millionen D-Mark teuren Ausbau der Fußgängerzone - die von der Kaiserstraße zerschnitten blieb. 25.000 Fahrzeuge rollten täglich auf der Achse. Schon damals plante man, die Kaiserstraße für den Individualverkehr zu sperren.

Was geschah, bis die Kaiserstraße autofrei wurde

Das war nicht nur das Ansinnen der Verwaltung, auch die damalige "Heilbronner Werbe- und Parkgemeinschaft" plädierte zumindest in Teilen Anfang der 70er Jahre, die Kaiserstraße so bald wie möglich zur Fußgängerzone zu machen. "Was dort geschieht, ist kriminell", zitierte die Stimme einen Einzelhändler. Während der Hauptverkehrszeiten herrsche eine "Katastrophensituation". Die Gehwege waren schmal, Passanten würden bei Regen nassgespritzt, hieß es in dem Text.

Doch auch die andere Seite kam zu Wort - mit den Argumenten, die bis heute gelten. "Bei aller Liebe zu den Fußgängern dürfen wir doch die Autofahrer nicht vergraulen", kam Juwelier Hans Luithle zu Wort. Debattiert wurde schon damals sehr grundsätzlich. Die Befürworter der Fußgängerzonen sahen eine Attraktivitätssteigerung der Innenstadt. Die Gegner fürchteten negative Auswirkungen auf die Umsätze der Händler.

Es sollte noch 20 Jahre dauern, bis die Autos endgültig aus der Kaiserstraße ausgesperrt wurden. Beim Einzelhandel war das Fazit nach ein paar Monaten wenig euphorisch. 70 Prozent ihrer Kunden seien unzufrieden, ließen die Händler vermelden und sprachen von sinkender Frequenz - einhergehend mit konjunktureller Krisenstimmung und einer zunehmenden Konkurrenz für die Innenstadtläden durch neue Einkaufsmöglichkeiten auf der grünen Wiese. Über Umsatzverluste bei den Geschäften und Wochenmarkthändler von bis zu 40 Prozent berichtete die Heilbronner Stimme im Sommer 1996.

Heute streitet Heilbronn über eine autofreie Lohtorstraße

Unvorstellbar? Die Idee, die Lohtorstraße zur Fußgängerzone zu machen, ist umstritten. Vor allem Händler, Café-Betreiber und Wochenmarktbeschicker sehen den Plan kritisch.
Foto: Christiana Kunz
Unvorstellbar? Die Idee, die Lohtorstraße zur Fußgängerzone zu machen, ist umstritten. Vor allem Händler, Café-Betreiber und Wochenmarktbeschicker sehen den Plan kritisch. Foto: Christiana Kunz  Foto: Kunz

Wie sieht es gut 20 Jahre später in der Kaiserstraße aus? Einige Geschäfte sind verschwunden, aber auch neue haben eröffnet. Dass der Handel dort besser dastehen würde, wenn die Kaiserstraße noch von Autos befahren wäre, das dürfte kaum jemand glauben.

Der Heilbronner Gerhard Schwinghammer wundert sich im Jahr 2018 über die aktuelle Debatte um die Lohtorstraße. Frühestens nächstes Jahr soll dort über eine Fußgängerzone entschieden werden. Heute schon ist die Aufregung groß, vor allem, weil 20 Kurzzeitparkplätze wegfallen würden. "Es ist wie immer in Heilbronn. Erst großes Gejammer, hinterher profitieren sie alle davon", meint Schwinghammer, der sich noch erinnert, wie "die Straßenbahn durch die Fleinerstraße fuhr und sich mit den Autos um den Platz stritt". Diskussionen habe es überall gegeben. "Heute würden sich alle heftig wehren, wenn man die Straßen wieder für Autos öffnen und Parkplätze vor ihrer Ladentür einrichten würde", sagt er mit Verweis auf den Aufschrei der Geschäftsleute.

Wie viel Verkehr verträgt nun die Stadt von morgen, die Erlebnis- und Begegnungsort sein will? Wie viel Fußgängerzone soll sein? Und wie viele Autos müssen sein? Dazu will die Stadt Heilbronn vor allem auch die Meinung der Bürger in Erfahrung bringen, und zwar über das Beteiligungsverfahren zu dem groß angelegten Masterplan, der die Innenstadtentwicklung der kommenden Jahre maßgeblich prägen wird.

Das sind die Standpunkte in der aktuellen Diskussion

Ein Bürgerworkshop dazu in der vergangenen Woche machte deutlich: Bei keinem anderen Thema liegen die Wünsche und Vorstellungen der Heilbronner über die lebenswerte Stadt so weit auseinander wie bei der Frage nach dem Verkehr.

Die Wunschliste der Autokritiker ist besonders lang: weniger Parkplätze im Straßenraum, den Durchgangsverkehr in der Gerberstraße unterbinden, die nördliche Innenstadt autofrei machen, die Götzenturmbrücke für Autos sperren, das Reim-Areal zur Blumenwiese machen. Gekoppelt sind die Ideen mit Forderungen nach einem besseren ÖPNV-Takt, City-Bike-Systemen und optimiertem Parkhausangebot. Bei der Stadtverwaltung stellt man das Thema Lohtorstraße ebenso in Zusammenhang mit einem Parkraumkonzept für die Innenstadt.

Stadtinitiative-Vorsitzender Thomas Gauß plädiert in der Debatte um noch mehr Fußgängerbereiche für ein Konzept, "das für alle steht, dazu gehört auch der Innenstadtkunde". Quartiersgaragen kann sich Gauß vorstellen. Autos will er als Händler aber nicht grundsätzlich aus der Innenstadt verbannen. "Sonst sorgen wir dafür, dass das Breuningerland profitiert", befürchtet Gauß. "Es müsse die freie Entscheidung des einzelnen bleiben, mit dem Auto nach Heilbronn zu fahren und dort innenstadtnah parken zu können. Gauß: "Aus Löwenstein auf den ÖPNV umzusteigen, das werden wir nicht hinbekommen."

Neue Logistik für Paketzustellung gefragt

Zu einem Riesenproblem für die Innenstädte wird der zunehmende Onlinehandel nicht nur wegen der Konkurrenz für die stationären Geschäfte, sondern vor allem wegen der Verkehrsbelastung. Angesichts steigender Paketmengen sind "effizienzsteigernde Konzepte nötig, um Innenstädte lebenswert zu halten", sagt Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutsche Städtetags. Weitere Akteure wie Deutscher Städte- und Gemeindebund, Handelsverband und Bundesverband Paket und Expresslogistik haben sich verständigt, die Logistik der Paketzustellung "stadtverträglich und so effizient wie möglich" abzuwickeln.

Der Paketverkehr müsse möglichst leise sein und unnötige Wege vermeiden. Das Verkehrsaufkommen durch Lieferverkehr müsse deutlich reduziert werden, um die Lebensqualität in Kommunen zu verbessern, heißt es beim Städte- und Gemeindeverbund. Maßnahmen sind alternative Antriebe, Mikro-Depots oder die Entzerrung von Verkehrsspitzen durch das Erproben leiser Nachtlieferungen durch speziell umgebaute Fahrzeuge.

Die Akteure wollen die Voraussetzungen klären, wie Fußgängerzonen für die Belieferung mit Lastenfahrrädern und Fahrzeugen mit alternativen Antrieben freigegeben werden können. Den Städten wird empfohlen, einen koordinierenden Ansprechpartner einzustellen, der sich speziell um Logistik- und Flächenfragen kümmert. 

Auch in Nachbarstädten ist Verkehr ein Dauerbrenner

Wie geht man anderswo mit dem Thema um? "Es scheint derzeit fast nur noch ein Thema in Ludwigsburg zu geben, das ein Unterscheidungsmerkmal der Parteien ist: Wie halten die Räte es mit den Autos, den Parkplätzen und dem Verkehr?", schrieb die Stuttgarter Zeitung im Sommer 2018 über den Streit, ob die Alleenstraße am Rande der Innenstadt autofrei bleiben soll. Seit 2016 ist diese für Autofahrer gesperrt. Außerhalb der Schulzeiten wollte die Verwaltung die Sperrung aufheben, das wurde mit einer Stimme Mehrheit vom Gemeinderat abgelehnt.

Aktuell geht es nun um den Arsenalplatz und den Schillerplatz im Stadtzentrum, die beide als Parkplatz genutzt und künftig autofrei werden sollen. Die Stadt will einen städtebaulichen Wettbewerb ausloben. Ein Ideenwettbewerb hat bereits die Rahmenbedingungen festgelegt. Ein Multifunktionsplatz wird auf dem Arsenal-Areal entstehen, ein Teil ist als Grünfläche gedacht, ein Teil soll für Veranstaltungen und Aktionen genutzt werden. Ersatz für die derzeit 144 Parkplätze sollen Autofahrer in einer neuen, öffentlichen Tiefgarage finden, die die Kreissparkasse in der Nähe baut.

Schrittweise oder sofort komplett autofrei? Über diese Frage sind auch die Ludwigsburger je nach Interessenslage heftig zerstritten. Die Händler warnen vor Abwanderung der Kunden, für die andere Seite heißt autofrei mehr Lebensqualität für alle. 

 

 

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