Paartherapeutin über toxische Beziehung: "Beide sind Täter und Opfer zugleich"
Toxische Beziehungen sind nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Psychologin Julia Hinterthür erklärt, was der Begriff genau bedeutet und wie betroffene Paare ihre Beziehung retten können.

"Das ist so toxisch" - ein Satz, der vielen vielleicht bekannt vorkommt. Besonders im Zusammenhang mit romantischen Paarbeziehungen wird der Begriff "toxisch" oft verwendet. Psychologin Julia Hinterthür von der Caritas Heilbronn-Hohenlohe hat in ihrer Therapiestunde immer wieder Paare oder Einzelpersonen zu Gast, die unter einer toxischen Beziehungsdynamik leiden.
Frau Hinterthür, was bedeutet „toxische Beziehung“ überhaupt?
Julia Hinterthür: Der Begriff „toxisch“ ist Ende der 90er in die Medien gekommen, total viral gegangen und in die Popkultur eingezogen. Toxische Männlichkeit, toxische Freundschaft und eben auch toxische Beziehungen. Das ist aber kein psychologischer Fachausdruck. Toxische Beziehung beschreibt eine Form einer dysfunktionalen Beziehungsdynamik. Toxisch heißt giftig. Ich denke, der Begriff polarisiert. Ich stehe ihm ambivalent gegenüber.
Warum ambivalent?

Hinterthür: Einerseits hilft es Menschen einzuordnen, was sie da gerade erleben. Es kommen oft Menschen oder Paare zu mir, die sagen: Ich habe nun endlich eine Beschreibung dafür gefunden, worin ich mich befinde. Das entlastet und hilft, damit umzugehen. Das kann auch verbinden, in dem über soziale Medien oder im privaten Umfeld andere „Betroffene“ gefunden werden können, weil man einen gemeinsamen Ausdruck dafür hat. Auf der anderen Seite birgt es Risiken und Nebenwirkungen. Der Begriff „toxisch“ lädt gerne dazu ein, davon zu sprechen, eine Person sei giftig – und das ist man meistens nicht selbst. Das verhindert also manchmal, dass Menschen in die Selbstreflektion gehen, und bringt Betroffene in eine Opferrolle, in der sie sich total hilflos und handlungs- und entscheidungsunfähig erleben. Deswegen bin ich eher ein Fan davon zu sagen: Es gibt eine dysfunktionale Beziehungsdynamik für die beide mit unterschiedlichen Anteilen verantwortlich sind.
Wenn man durch Social Media scrollt, hat man manchmal das Gefühl, jede Beziehung ist irgendwie toxisch. Wie häufig kommen toxische Beziehungen wirklich vor?
Hinterthür: Im Nachhinein kann man oft vermeintliche Warnsignale festmachen und seine vergangene Beziehung als toxisch betiteln – aber wie häufig das dann tatsächlich zutrifft? Ich würde sagen, jede Beziehung ist nicht davor gewappnet, irgendwann mal in eine dysfunktionale Dynamik reinzurutschen. Den einen passiert es vielleicht früher und den anderen später. Manche schaffen es, das zu überwinden und manche vielleicht eher weniger. Da führt es dann eher zu Leid.
Was macht eine Beziehung toxisch?
Hinterthür: Man spricht davon, wenn Grenzüberschreitung passiert. In Form von emotionaler, seelischer oder auch körperlicher Gewalt, wie beispielsweise durch Abwertung oder Manipulation. Dies geschieht in einer wechselseitigen Interaktion, indem beide Personen zu einer Dynamik beitragen, die ihnen gegenseitig nicht guttut. Eine Person begeht immer wieder Grenzüberschreitungen, und die andere Person lässt es zu. Dann befinden wir uns in einer beidseitigen Entgrenzung und in einer Dynamik von Extremen in Bezug auf Nähe und Distanz, Idealisierung und Abwertung, Autonomie und Abhängigkeit.
Können Sie konkrete Beispiele geben, wie dieses Nähe-Distanz-Verhältnis aussieht?
Hinterthür: Ein konkretes Beispiel ist, wenn ein Partner oder eine Partnerin viel Abwertungsverhalten auslebt. Und anstatt sich davon abzugrenzen, fügt sich die andere Person dem Ganzen, versucht den Selbstwert durch die andere Person aufrecht zu erhalten, verliert sich dabei völlig in der Beziehung und isoliert sich aus ihrem Umfeld. Anstatt in die Autonomie zu gehen, in der sie sich vor der Abwertung schützen kann, geht sie noch mehr in die Bindung, die ihr im Moment so nicht gut tut. Das heißt, obwohl Verhalten gelebt wird, das total schmerzlich ist – für einen selbst, aber auch für die andere Person – rutscht man immer mehr in die Nähe, obwohl es vielleicht an mancher Stelle mehr Distanz bräuchte.
Bei einer toxischen Beziehung wird oft in Täter und Opfer eingeteilt. Ist das tatsächlich so?
Hinterthür: Die Einteilung in Täter und Opfer Rolle ist sehr absolut. Es lädt dazu ein, einer Person die ganze „Schuld“ zu geben. Ich würde eher sagen, die eine Person zeigt primär grenzüberschreitendes Verhalten und die andere Person lässt es primär zu, immer wieder die eigenen Grenzen überschreiten zu lassen, zum Beispiel aus Angst verlassen zu werden. Und damit sind beide Täter und Opfer zugleich.
Wie kommt ein Paar aus einer toxischen Dynamik wieder raus?
Hinterthür: Das hängt davon ab, wie offen das Paar miteinander kommunizieren kann, d.h. in welchem Maß beide in der Lage sind, die eigenen Bedürfnisse, Ängste und das eigene Verhalten zu reflektieren. Der erste Schritt ist das einvernehmliche Verständnis: Wir sind dysfunktional, wir sind toxisch miteinander. Und der zweite Schritt ist, auf beide individuell zu blicken, wie und was diese dazu beitragen. Und der dritte Schritt ist, zu fragen, was brauchen wir voneinander, um etwas machen zu können. Ich erlebe es, dass das manche Paare nicht allein schaffen. Diese suchen sich dann Beratung als Paar oder oft auch eine Person alleine – meistens ist das die Person, mit dem höheren Leidensdruck.
Warum ist es manchmal so schwer, sich aus so einer toxischen Beziehung zu lösen?
Hinterthür: Gewohnheit kennt keine Moral. Wir Menschen neigen dazu, Gewohnheiten für uns zu verfolgen, auch wenn es schlechte Gewohnheiten sind. Und manche Menschen entscheiden sich immer wieder dafür. Ich nehme lieber die Hölle, die ich kenne, als das Paradies, das ich nicht kenne. Es braucht unendlich viel Kraft und Mut, sich für Veränderung zu entscheiden. Für Veränderung ist es immer hilfreich, persönliche Ressourcen zu haben und ein Netzwerk von Freunden oder Familie, die einem dabei helfen. Leider ist es oft so, dass toxische Beziehungssysteme dazu führen, dass man sich eher aus dem Umfeld zurückzieht. Die Beziehung bzw. das eigene Verhalten wird dann mit der Zeit immer mehr schambehaftet. Wenn ich wiederholt nicht in den Austausch und in die Reflexion darüber gehe, was die Beziehung mit mir macht, dann wird es immer schwieriger zu gehen. Das heißt, ich muss erst mal mit mir selbst in ein ehrliches Gericht gehen, um einen Ablösungsprozess in Gang zu setzen.
Wann ist der Punkt überschritten, an dem man das noch retten kann oder retten sollte?
Hinterthür: Ich denke, jeder Mensch ist in der Lage für Veränderungen. Die Frage ist, wie bereit sind diese zwei Menschen, die in einer solchen Beziehung miteinander sind, für sich selbst einzuschätzen: Wie glücklich bin ich gerade? Wie viele gute und wie viele schlechte Tage habe ich in der Beiziehung? Was kann ich für mein eigenes Glück tun, und inwieweit sind wir beide bereit, etwas gemeinsam dafür zu tun? Wenn wir nochmal den Bogen zu Täter und Opfer spannen, dann könnte man ja meinen, immer der andere oder die andere muss jetzt etwas machen und dann wird alles gut. Aber so gibt man die Verantwortung nur ab. Demnach kann ein Rettungsversuch oft noch zu jedem Zeitpunkt gelingen, wenn beide bereit sind viel zu investieren und sich trauen, alte Muster zu durchbrechen.
Wie viel Arbeit in einer Beziehung ist normal?
Hinterthür: Ich würde sagen, Liebe passiert und Beziehung ist immer Arbeit. Und dann kommt es drauf an, woran wir uns reiben. Es gibt Paare, die reiben sich an weniger Themen, und dann gibt es Paare, die reiben sich an mehr Themen. Abhängig davon, ganz individuell, ist das Normalitätsmaß an Beziehungsarbeit anzupassen. Ich bin ein großer Fan davon, dass Paare sehr häufig miteinander ins Gespräch gehen – auch in reibungslosen Phasen der Beziehung. Beispielsweise alle sechs Monate eine Zwischenbilanz zu ziehen, um zu prüfen, was brauchen wir, um gut miteinander sein zu können. Aber wenn sich schon die Anfangsverliebtheitsphase, die ja eigentlich die schönste sein soll, unendlich komplex gestaltet, dann würde ich einen neugierigen Blick darauf werfen wollen, was ich und die andere Person da gerade machen. Wenn ich aber die Verliebtheitsphase voll genieße, weil wir uns beide noch glorifizieren und im besten Licht darstellen, dann fängt die Beziehungsarbeit an, wenn diese wilde, leidenschaftliche und wahnsinnige Zeit in eine stabilere Bindung übergeht.
Wenn man sich jahrzehntelange Ehen, von Eltern oder Großeltern, anschaut: Wie wahrscheinlich ist es, dass sie auch mal toxische Phasen erlebt, aber wieder überwunden haben?
Hinterthür: Es ist sehr wahrscheinlich, dass fast jede Beziehung, wenn nicht sogar jede, vor Herausforderungen gestellt wird. Ausgelöst durch gewisse Lebensereignisse oder veränderte Umstände. Veränderung passiert so oder so, Liebe verändert sich mit der Zeit. Deswegen ist jedes Paar damit konfrontiert, damit umzugehen. Ich würde sagen, der Schlüssel zum Erfolg ist Kommunikation und Transparenz darüber: Wie stehen wir gerade zueinander? Was gilt noch zwischen uns? Sind unsere Bedürfnisse erfüllt oder unerfüllt, und wie geht es dir mit mir und mir mit dir? Deswegen würde ich sagen, jede Beziehung wird zu einem gewissen Zeitpunkt mal dazu eingeladen, in eine dysfunktionale Dynamik rutschen zu können. Die Frage ist, wie viel investiere ich und inwieweit verstehe ich mich als Teil der Lösung, um durch gemeinsame, partnerschaftliche Reflexion eine toxische Dynamik zu verhindern oder zu überwinden.
Sie pochen sehr darauf, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, und dass man sich sozusagen aus dieser gefühlten Ohnmacht lösen muss.
Hinterthür: Genau, und sich seine eigenen Täteranteile anzuschauen, weil ich in einer Beziehung nicht ohne Grund bin und bleibe. Ich will damit gar nicht absprechen, dass das sehr schmerzhaft ist. Natürlich gibt es Opferanteile. Daneben steht aber meine eigene Verantwortung, wie ich damit umgehe. Und ja, ich poche sehr darauf, dass man sich selbst fragt: Was macht mich glücklich, und inwieweit mache ich andere Menschen für mein eigenes Glück verantwortlich. Heutzutage ist es glücklicherweise kein Tabu mehr, über toxische Beziehungen zu sprechen. Es gibt zahlreiche Hilfsangebote, um wieder in die eigene Kraft und Stärke zu kommen, um seines eigenen Glückes Schmied zu sein.
Zur Person
Julia Hinterthür (30) arbeitet seit 2019 bei der Caritas Heilbronn und berät Paare, Familien und andere Beziehungskonstellationen. Nach Ausbildung in Theaterpädagogik studierte sie Psychologie. Zudem ist sie ausgebildet in systemischer und Sexualtherapie.