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Täter und Opfer sind sich selten fremd

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Mord und Totschlag rufen bei Menschen Entsetzen hervor. Oft kennen sich Täter und Opfer auf irgendeine Weise. In der Region liegen Beziehungstaten sogar über dem bundesweiten Schnitt.

Wenn ein Mensch umgebracht wird, beschäftigt Polizei und Öffentlichkeit die Frage: Wer ist der Täter? "Der kommt bei Mord und Totschlag in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle aus dem familiären oder aus dem eigenen sozialen Umfeld", sagt Arnold Wieczorek mit Blick auf die bundesweiten Zahlen. Er ist Kriminal- und Einsatzpsychologe des Landeskriminalamts (LKA) Baden-Württemberg. Bei Mord und Totschlag in der Stadt und im Landkreis Heilbronn sowie im Hohenlohekreis ist der Anteil an Beziehungstaten dagegen weitaus höher. In 30 Fällen zwischen den Jahren 2010 und 2019 haben sich bis auf eine Ausnahme Täter und Opfer auf irgendeine Weise gekannt.

Warum töten Menschen Familienangehörige, die sie vielleicht sogar zu lieben meinen? "Das, was der Einzelne für Liebe hält, kann sehr unterschiedliche Hintergründe haben", sagt Wieczorek. Daraus könnten sehr vielfältige Motive für die Tötung entstehen. Es gebe nicht den einen Grund, warum ein Mensch einen anderen umbringe.

Lernen, mit der Brutalität umzugehen

Ähnlich sieht es in Heilbronn Kriminalhauptkommissar Mario Rapp. "Alle Taten sind unterschiedlich", sagt der 43 Jahre alte kommissarische Leiter des Bereichs Kapitaldelikte bei der Kriminalpolizei des Heilbronner Polizeipräsidiums. Wird er gerufen, können ihn sowohl die Brutalität einer Tat als auch die Spurenlage beschäftigen. "Mit der Brutalität lernt man umzugehen, das kann ich ausblenden", sagt er. Im Vordergrund steht für ihn die Aufklärung. "Was haben wir, was fehlt uns?", fragt er sich angesichts vorhandener Beweise. "Es kommt vor, dass ich mir zu Hause über die fehlenden Puzzlestücke Gedanken mache." Ziel aller Ermittlungsarbeit ist es, ein rechtskräftiges Urteil zu erlangen. Die Aufklärungsquote ist extrem hoch.

Nicht aufgeklärt ist der Mord an einer Prostituierten, die 2013 vom Straßenstrich in der Hafenstraße Heilbronn verschwindet. Zwei Jahre später findet ein Spaziergänger ihre Überreste in einem Waldstück bei Neuenstadt. "Es hatte zwar ein paar Zeugenhinweise gegeben", erklärt Bettina Jörg, Sprecherin der Heilbronner Staatsanwaltschaft. Allerdings habe sich kein ausreichender Tatverdacht ergeben.

Streit unter Männern eskaliert

15 Morde und 15 Totschlagsfälle registriert das Polizeipräsidium Heilbronn in der Stadt und im Landkreis Heilbronn sowie im Hohenlohekreis zwischen 2010 und 2019. Die Opfer: 13 Frauen, 16 Männer und ein siebenjähriger Junge. Die Täter: fünf Frauen und 27 Männer. Streit unter Männern, der eskaliert, gehört zu den häufigen Kontexten eines Totschlags. Dann sind nicht selten Alkohol und Drogen im Spiel. In einem dieser Fälle schlagen drei junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 20 Jahren einen 38-Jährigen in der Heilbronner Titotstraße tot. Weiter sterben drei Männer nach Körperverletzungen. Einen weiteren Fall stuft die Polizei als Tötung auf Verlangen ein. Vor acht Jahren setzt ein Mann in Bad Rappenau seiner Lebensgefährtin auf deren Wunsch eine Heroinspritze.

Noch nicht als Mord oder Totschlag eingestuft ist das letzte Tötungsdelikt des Jahres 2019. Ein Mann aus Heilbronn steht im Verdacht, seine Ehefrau mit einem spitzen Gegenstand umgebracht zu haben. Der siebte Fall dieser Art in zehn Jahren.

Immer wieder steht Partnerschaftsgewalt im Zusammenhang mit einer Trennung. "Das kommt insbesondere dann vor, wenn Liebe mit dem Besitz oder Kontrolle einer anderen Person gleichgesetzt wird", erklärt Wieczorek. Abhängig von der Persönlichkeitsstruktur könnte durch Besitzverlust das eigene Ansehen oder das eigene Ego "im unerträglichen Ausmaß" bedroht werden. Die Trennung könne zu allergrößten Erschütterungen des Selbstwertgefühls und zu sehr intensiven Kränkungsgefühlen führen. "Die zuvor intensiven positiven Gefühle können dann in heftige negative Affekte umschlagen wie Wut, Hass oder Rachedurst."

Dass Menschen einen Angehörigen umbringen, lasse sich immer wieder auch auf materielle Gründe zurückführen, etwa weil jemand erben will. Ein Grund könne auch eine Art Ausbruch aus erlebter Einengung sein. Wieczorek erinnert sich an einen Mann Mitte 40, der seit Jahrzehnten auf engstem Raum mit seiner Mutter zusammenlebt - bis er sie mit einem Bolzenschussgerät tötet. "Das hat ihm niemand zugetraut." Der Mann sei als höflich und angepasst wahrgenommen worden. Ein Beispiel, wie aus dem anhaltenden Gefühl der Einengung und der beraubten Chancen tödliche Gewalt hervorgeht.

Jeder kann zum Täter werden

Dass Frauen morden, passiere, aber selten. "Bei Frauen ist die Hemmschwelle höher", meint Kripo-Mann Rapp. "Frauen wenden andere Konfliktstrategien an. Männer lassen die Muskeln spielen, sie lassen sich leichter provozieren. Das schaukelt sich hoch." Wenn Frauen ihre Partner töten, seien sie in der Beziehung sehr häufig vorher der Gewalt des später getöteten Partners ausgesetzt gewesen, sagt Wieczorek. So bringt eine 34 Jahre alte Frau 2012 in Heilbronn ihren etwa 30 Jahre älteren Liebhaber um. Dieser soll die Frau jahrelang genötigt, bedroht und erpresst haben, sagt die Staatsanwaltschaft bei der Gerichtsverhandlung.

Letztlich könne jeder Mensch zum Täter werden, macht Wieczorek deutlich. Jemanden zu töten, sei eine Verhaltensmöglichkeit. "Allerdings ist es so, dass die entsprechende Hemmschwelle und die hinsichtlich einer Tötungshandlung verinnerlichten Kontrollmechanismen von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich ausgeprägt sind."

Die Reaktionen überführter Täter fallen dementsprechend unterschiedlich aus, so die Erfahrung von Rapp. "Das reicht von Erleichterung und Ruhe bis zu einer gewissen Kälte, mit der Täter über das Geschehen berichten." Manche seien abgeklärt, andere zunächst davon überzeugt, das Richtige getan zu haben.

Die Angst vor dem Unbekannten

Wenn Menschen getötet werden, ist der Täter in vielen Fällen ein naher Verwandter oder jemand, den das Opfer kennt. Dennoch fürchten sich Menschen eher vor dem Unbekannten, der ihnen auflauert. "Es widerspricht unserem ureigenen Empfinden, dass wir uns in der eigenen Familie oder im Angehörigenkreis bedroht fühlen sollten", sagt Arnold Wieczorek, Kriminal- und Einsatzpsychologe. In diesem Rahmen erwarteten wir berechtigterweise Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen. "Es entspricht von daher dem natürlichen Schutzreflex, dass wir Gefahren und Bedrohungen zunächst außerhalb dieser Orte des Vertrauens angesiedelt wissen wollen." Wieczorek spricht hier von Stereotypen im Denken und Empfinden. Solche vereinfachenden und verallgemeinernden Klischees hätten allerdings eine wichtige positive Funktion "Sie tragen dazu bei, dem Einzelnen Halt und Orientierung zu geben und das Zugehörigkeitsgefühl zu stabilisieren."

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