Superlative der Region: Der Kiliansturm, der Turm der Türme
Höchster Kirchturm, größtes Kunstwerk, gefährliches Turngerät: Der Heilbronner Kiliansturm ist ein besonderes Wahrzeichen und nicht nur für Historiker von hohem Interesse.

Der 63,70 Meter hohe Heilbronner Kiliansturm, inklusive 2,20 Meter großem Männle, ist - soweit wir es überblicken - nicht nur der größte Kirchturm weit und breit. Er ist, auch im übertragenen Sinne, ein überragendes Kunstwerk mit teils satirischen Steinskulpturen, eine architektonische Meisterleistung mit Stilelementen aus Romantik, Gotik und Renaissance, ein Stein gewordenes Zeitdokument des unruhigen 16. Jahrhunderts, dem Beginn der Neuzeit.
Vorbote der Reformation?
Manche Historiker sehen im Westturm der Kilianskirche gar einen Vorboten der Reformation. Zeitgenossen sprechen von einem "Bösewicht bis an den Himmel", weil er mit seinen frechen Skulpturen die damalige Amtskirche und ihre Auswüchse hochnimmt: da ein Kleriker mit Narrenkappe, dort ein Bischof mit Vogelschnabel oder ein Affe im Nonnengewand. Gleichzeitig hält der Turm aber die Bibel hoch, unter anderem in Form der vier Evangelisten und ihrer Symbole, aber auch mit Inschriften wie dieser: "Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit", ein Kernsatz der Reformation.

Dieser von Hans Schweiner aus Weinsberg 1508 bis 1529 im Auftrag der Reichsstadt auf einem Vorgängerbau mit heimischem Sandstein errichtete Turm ist also in vielerlei Hinsicht ein Superlativ. Bis hin zur Domenica, der mit 5,11 Tonnen schwersten von neun Glocken. Bis hin zum Männle. Für Historiker steht der einst so genannte "Steinerne Mann" für das Selbstbewusstsein der damaligen Reichsstadt, die mit ihm - anstelle eines sonst üblichen Kreuzes - ihre Distanz zu Kirche und Kaiser zum Ausdruck bringt. Denn der 1529 installierte Stadtsoldat mit Standarte und Schwert blickt Richtung Speyer, wo sich Heilbronn in eben diesem Jahr der Protestation anschloss, ein Jahr bevor man in der Neckarstadt per Volksabstimmung die Reformation einführte: gegen den Willen des Kaisers und mit dem Risiko, diesen Schritt notfalls mit Waffengewalt verteidigen zu müssen.
Den Bombenangriff überstanden
Der Kiliansturm ist aber nicht nur Gegenstand der Geschichtsforschung. Mit ihm verbinden viele, nicht nur ältere Heilbronner auch ganz besondere Erinnerungen. Wie ein Mahnmal hat er die Zerstörung der Stadt 1944 einigermaßen überstanden. Der Wiederaufbau wurde von vielen Bürgern mitgetragen, ebenso wie die jüngeren Sanierungsaktionen des ausgesprochen rührigen Vereins der Freunde der Kilianskirche.
Spektakuläre Aktionen in luftiger Höhe

Und: Der Turm reizt von jeher Akrobaten zu allerhand spektakulären Höchstleistungen in luftiger Höhe. Die Stadtchronik erwähnt bereits 1583 einen Seiltänzer, der vom Turm auf einem Seil "Dreimal in das Rathaus gefahren ist" und einen Knaben "in einem Schubkärchlein mit einem Rad herniedergeführt" hat. Ähnliches vollführte die Zirkusfamilie Traber 1947 mit einem Motorrad, Wiederholungen hat das Rathaus, zuletzt 1978, nicht genehmigt. Früher wird erst gar nicht nachgefragt. Aus dem 18. Jahrhundert wird berichtet, wie Handwerker auf dem Kopf des "Steinernen Riesen" Fahnen schwingen und "andere Kunststückchen vollführen".
Anno 1833 hält Schultheiß Heinrich Titot fest, dass "gar nicht selten Waghälse auf den Kopf des Mannes klettern". Eine Schwarzweiß-Postkarte zeigt, wie Leo Wörner und Willi Schöller 1921 - nach einer Kneipenwette - einen Handstand auf dem Männle machen. Im Jahre 2001 machen es ihnen zwei Turnweltmeister nach: Eberhard Gienger, der später für die CDU im Bundestag sitzt, und Victor Belenki wagen zur Eröffnung des Heilbronner Weindorfs Handstände zu Füßen der Skulptur - allerdings sind sie mit Seilen an einem Kran gesichert. Nebenbei werben sie für Spenden zur Turmsanierung. Im Sommer 2013 tun es ihnen Mischa Leinkauf und Matthias Wermke nach, ohne dass jemand groß Notiz davon nimmt - bis das Aktionskünstlerduo in der Kunsthalle Vogelmann ein entsprechendes Video von der Besteigung zeigt.
Hohes Örtchen
Bis in die 1920er Jahre logierte auf dem Heilbronner Kiliansturm Tag und Nacht ein Türmer. Im fünften Stock, also etwa in 35 Meter Höhe, hatte er eine eigene Wohnung mit tollem Rundumblick, die sogenannte Turmwächterstube. Laut Ratsprotokoll musste ihm als Pissoir ein offener Kübel dienen. Exkremente kamen in Blecheimer, die bis Juli 1900 alle drei bis vier Wochen geleert wurden, danach jede Woche. So beschreibt es Roland Rösch in seinem Buch „Heilbronner Latrinengeschichte“. Der Donnerbalken ist tatsächlich bis heute erhalten, nur der Blecheimer fehlt.