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Hamas-Terror
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"Fühle mich schlecht, Freunde zurückzulassen": Student aus Wüstenrot reist mit Evakuierungsflugzeug aus Tel Aviv

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Die Lufthansa beginnt heute damit, Deutsche aus Israel zu evakuieren. Luis Georg Müller aus Wüstenrot folgt der Empfehlung des Auswärtigen Amts.

Luis Georg Müller aus Wüstenrot in seiner Studenten-WG in Tel Aviv.
Luis Georg Müller aus Wüstenrot in seiner Studenten-WG in Tel Aviv.

Der Terror der Hamas hat Auswirkungen auf einige Menschen in und aus der Region Heilbronn. Während israelische Austauschschüler in Eppingen am Mittwoch vorzeitig nach Israel zurückgeflogen sind, ist Luis Georg Müller, 21-jähriger Student aus Wüstenrot, in die andere Richtung unterwegs. Er folgt der Empfehlung des Auswärtigen Amts und nutzt am Donnerstag oder Freitag einen der Lufthansa-Evakuierungsflüge von Tel Aviv nach Deutschland.

Entscheidung zur Abreise aus Tel Aviv fällt Luis Georg Müller nicht leicht

Müller sagt in einem Videotelefonat mit unserer Zeitung, er fühle Bestürzung und Traurigkeit. "Die israelische Gesellschaft steht noch immer unter Schock." Er sei hier im Auslandssemester an der Reichman Universität in Herzliya. Seine WG befinde sich in Florentin – einem angesagten Stadtteil von Tel Aviv. "Eigentlich ein cooler Ort, um in Israel zu leben." Doch die Umstände ändern alles. Sein Plan sei gewesen, die Entwicklungen abzuwarten. "Die Lage scheint sich aber nicht zu beruhigen." Seine Entscheidung sei ihm nicht leicht gefallen.

"Für mich ist es ein langer Traum, in Israel zu leben", sagt Müller, der in Weinsberg am Justinus-Kerner-Gymnasium Abitur machte. Sein Urgroßvater sei im damaligen Palästina als Kind deutscher Templer geboren und aufgewachsen, bis er nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland musste. Und sein Großvater wiederum sei lange Zeit Reiseführer in Israel gewesen. Und so fühle auch er sich tief mit Israel verbunden, sagt Müller. Er sei in der Vergangenheit immer wieder nach Israel gereist, und diesmal erst seit vergangenen Donnerstag hier. "Ich hatte zwei Tage Frieden", sagt er. Am Samstag sei er aufgewacht und habe ein Donnern gehört. Er habe gedacht, das sei ein Gewitter, schildert Müller. "Doch dann hörte ich Sirenen." Wenig später erhielt er erste Nachrichten über das, was geschehen war.


Sein bester Freund ist beim israelischen Militär

"Das ist anders als alles, was es zuvor gab", sagt Müller. "Das ist eine Zäsur." Er verurteile zutiefst die Brutalität der Hamas und das Massakrieren und Verschleppen von Zivilisten. "Ich befinde mich in einem Dilemma", so Müller. "Ich habe Freunde auf beiden Seiten." Ein Bekannter von ihm habe Verwandte im Gaza-Streifen, sein bester Freund sei beim israelischen Militär und bereite sich auf die Bodenoffensive vor. Obwohl er verschiedene Blickwinkel habe auf den Nahost-Konflikt, sei das aktuelle Geschehen abscheulicher Terror. Er teile hier die israelische Position.

Weshalb er nun einen Evakuierungsflug in Anspruch nehmen wolle, habe mehrere Gründe. Zum einen empfehle es das Auswärtige Amt, sagt Müller, zum anderen "macht sich meine Familie große Sorgen". Er habe da eine Verantwortung. "Ich fühle mich aber schlecht, weil ich meine Freunde in Israel zurücklasse". Es fühle sich für ihn außerdem so an, als habe das Böse gesiegt. Er sehe leider realistisch, dass die Entwicklungen "das Potenzial haben, maximal zu eskalieren".


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Israelische Austauschschüler in Eppingen wollten dringend zurück zu ihren Familien

Die israelische Austauschschülerin Ofir Levy (zweite von rechts) am Dienstag zusammen mit (von links) Joena Schilling, Anna Rieger und Elena Wintterle, Schülerinnen des Hartmanni-Gymnasiums in Eppingen.
Fotos: Adrian Hoffmann/privat
Die israelische Austauschschülerin Ofir Levy (zweite von rechts) am Dienstag zusammen mit (von links) Joena Schilling, Anna Rieger und Elena Wintterle, Schülerinnen des Hartmanni-Gymnasiums in Eppingen. Fotos: Adrian Hoffmann/privat  Foto: nicht angegeben

Ähnlich wie Luis Müller sieht die israelische Austauschschülerin Ofir Levy den Kriegsausbruch. Die 15-Jährige war bis Mittwoch mit zwölf Mitschülern am Hartmanni-Gymnasium in Eppingen zu Gast. Einen solchen Terror in diesem Ausmaß habe sie noch nie erlebt, sagte sie am Dienstag. Seit Samstag befinde sie sich in Deutschland, sei aber "mit dem Kopf woanders".

Wie ihre Mitschüler aus der Stadt Zichron Yaakov nördlich von Tel Aviv wolle sie nun vor allem eines: daheim bei ihren Familien sein. Es sei ein tolles Programm in Eppingen und sie bedaure die vorzeitige Abreise - am Mittwoch nach Athen und von dort weiter mit einem Sonderflug von Israair. Lehrer Alan Götz vom Hartmanni-Gymnasium versteht die Entscheidung der israelischen Austauschschüler und ihrer Lehrerinnen. "Es ist ein kompletter Albtraum", sagt er.

Das Austauschprogramm mit einer israelischen Schule besteht in Eppingen seit einigen Jahren. Bisher hing man das Bestehen des Programms nie an die große Glocke, auf Wunsch der israelischen Gäste. Die Gäste entschieden allerdings, gerade jetzt sei es wichtig, in der Öffentlichkeit zu sprechen und zu zeigen, dass sie da seien.


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Georg Luis Müller hat am Montag, 9. Oktober, in Tel Aviv einen Tagebucheintrag verfasst, den er gerne teilen möchte:

„Ich war heute die meiste Zeit in meinem Zimmer. Doch einmal verließ ich das Haus für einen Einkauf.

Um die Ecke stand eine Frau, weinend und kurz vor dem Zusammenbruch am Telefon, jemand muss ihr etwas mitgeteilt haben. Ist jemand Bekanntes unter den Opfern? 20 Meter weiter, ich stehe an der Straße, ein Rollerfahrer stürzt, ich helfe ihm auf, zerre seinen Roller von der Straße, es geht ihm gut, ich räume die Trümmer beiseite. Im Laden angekommen schaut der Verkäufer emotionslos auf den Fernseher, eine Frau in Tränen ist zu sehen, sie schildert die Entführung ihrer minderjährigen Kinder.

Ich laufe im Laden dreimal um die Regale, bis ich mich erinnere, was ich kaufen wollte: Wasser, Nudeln und ein Ladekabel. Es donnert, Raketen? Wo sind die Sirenen? Nein, dieses Mal scheint es ein echtes Gewitter zu sein. Ich bezahle. Draußen ist der Himmel grau gedimmt, die Straßen überraschend leer. Ein Paar packt gerade Dinge in ein Auto. Verlassen sie die Stadt oder ist das eine Spende?

Ich laufe weiter, eine Frau probiert mit letzter Kraft, einen Einkaufswagen in ihren Hauseingang zu bekommen, ich helfe ihr. Toda (übersetzt: danke), sagt sie. Ein paar Meter weiter bleibe ich stehen, ich beobachte den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Was kaufen die Menschen jetzt wohl ein? Die meisten Läden haben geschlossen. Außer der Alkohol-Shop, vor dem ich stehe, der ist gut besucht, Menschen betäuben sich. In diesem Moment läuft ein Junkie mit weiten Augen und nackten Füßen an mir vorbei. Wo findet er jetzt Schutz? Oder ist es ihm egal?

Am nächsten Laden halte ich. Bananen, könnte ich gebrauchen. Nach dem Bezahlen fällt mir das frische Brot ins Auge, ich kaufe es mit meinem Rückgeld. Ich laufe zurück, jetzt bin ich in der Wohnung: Esse das warme Brot, das Handy lädt wieder und ich schreibe, um zu verarbeiten. Wir sind im Lockdown, nur dass dieses mal der Virus vom Himmel fällt.“

 

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