Staatsanwältin: Mutter nahm Tod ihres Babys billigend in Kauf
Im Prozess vor dem Heilbronner Landgericht um einen ausgesetzten Säugling fordert die Anklagevertreterin vier Jahre und drei Monate Gefängnis. Die Verteidigerin plädiert auf eine Bewährungsstrafe.

Ein ums andere Mal legt die Verteidigerin den Arm um die Schulter der Angeklagten. Auf den Zuschauerstühlen sitzen Familienangehörige der Beschuldigten sowie der leibliche Kindsvater dicht beieinander. Aufmunternde Worte, wenn die Angeklagte von zwei Justizbeamten in Handschellen aus dem Saal geführt wird. Die Beschuldigte blickt mit Tränen in den Augen zurück.
Anklage und Verteidigung haben das Wort
War es versuchter Totschlag? Oder hat die 22-jährige Angeklagte am Nachmittag des 7. September 2021 ihr neugeborenes Kind in einer weißen Wanne und lediglich mit einer Windel bekleidet an einem Weg am Waldrand bei Schwäbisch Hall-Hessental im juristischen Sinne "nur" ausgesetzt?
Anklage und Verteidigung haben am vierten Verhandlungstag vor der Schwurgerichtskammer des Heilbronner Landgerichts das Wort. Vier Jahre und drei Monate Gefängnis fordert die Erste Staatsanwältin Sara Oeß - eine Bewährungsstrafe Rechtsanwältin Anke Stiefel-Bechdolf.
Anwältin stellt neue Beweisanträge
Es soll nicht das letzte Wort sein, das Staatsanwältin und Verteidigerin in diesem Verfahren sprechen werden. Denn ans Ende ihres Plädoyers stellt Stiefel-Bechdolf zwei neue Beweisanträge. Unter anderem soll die GPS-Auswertung des Fahrzeugs der Angeklagten beweisen, dass sie nach der Tat noch einmal zu dem Waldweg zurückfuhr, um zu sehen, wie es dem Kind geht. Die Staatsanwältin schenkt dieser Version keinen Glauben.
"Dieser Fall ist an Emotionalität und Leid für alle nicht zu überbieten", eröffnet Anke Stiefel-Bechdolf ihr Plädoyer. Damit meint die Verteidigerin nicht nur das Baby und die Familie der Angeklagten. Auch die Beschuldigte selbst "wird diese Last für immer mit sich tragen". Eines Tages werde ihr Sohn sie fragen, warum sie ihn am Waldrand ausgesetzt hat, so Stiefel-Bechdolf.
Kind hätte die Nacht nicht überlebt
Einig sind sich Anklage und Verteidigung am Dienstag in einem Punkt: "Wir haben hier kein Monster sitzen", sagt die Erste Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Für die Anklägerin stehe aber fest, dass die Beschuldigte den Tod ihres Säuglings billigend in Kauf genommen hat. "Das Kind hätte die Nacht nicht überlebt", zitiert sie die Zeugenaussage des behandelnden Klinikarztes und die Einlassung der sachverständigen Gerichtsmedizinerin. Gleichzeitig hat der psychiatrische Gutachter der Schwäbisch Hallerin volle Schuldfähigkeit attestiert.
Abseits der Straße nicht viele Passanten
So habe es die Angeklagte nach Auffassung der Staatsanwältin dem reinen Zufall überlassen, ob der neugeborene Säugling am Waldrand gefunden wird. Schließlich seien auf diesem Weg abseits der Straße nicht viele Passanten unterwegs. Und diejenigen, die vorbeikamen, hätten zunächst gedacht, jemand habe hier illegal seinen Müll entsorgt, argumentiert Oeß. Nach der Tat "hat sie weitergelebt, also ob es das Kind nicht geben würde". Bis sie sich schließlich am 10. Dezember der Polizei stellte. Seitdem sitzt die Angeklagte in Untersuchungshaft.
Anwältin wütend über Ermittlungen
Viele handfeste Indizien sprächen für die abgegebene Erklärung ihrer Mandantin, sagt Stiefel-Bechdolf. "Und wir sprechen über fiktive Annahmen zu Lasten der Angeklagten", so die Anwältin weiter. "Wir wissen vieles nicht, was wir wissen könnten. Ich war selten so wütend über die Ermittlungen wie in diesem Fall", so die Anwältin.
Die Tat habe nichts von einem Tötungsdelikt. Vielmehr sei die Angeklagte mit der Situation überfordert gewesen. "Ich habe lange gerungen, ob ich einen Freispruch fordern soll", sagt Stiefel-Bechdolf, die mit zwei neuen Beweisanträgen ihre Mandantin entlasten will.
Die Verhandlung wird am Donnerstag, 21. April, um 13.30 Uhr mit der Wiederaufnahme der Beweisführung fortgesetzt. Einen zusätzlichen Termin legt Richter Roland Kleinschroth für Dienstag, 26. April, um neun Uhr fest. Ob dann das Urteil gesprochen wird, steht laut Kleinschroth noch nicht fest.
Angenommener Tatverlauf
Im Prozess gegen die Mutter, die im September ihr Baby am Waldrand in Schwäbisch Hall-Hessental ausgesetzt hat, geht die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Heilbronn derzeit davon aus, dass die 22-jährige Angeklagte am 7. September morgens ihr Kind auf der Toilette in ihrer Wohnung zur Welt gebracht hat.
Anschließend sei sie zur Arbeit gefahren und habe ihr Baby über Stunden unversorgt im Auto gelassen. Nach der Arbeit habe die Beschuldigte Windeln, Schnuller und Babynahrung gekauft. Anschließend habe sie auf einem Parkplatz die Nabelschnur durchgeschnitten und die Nachgeburt entsorgt. Danach habe sie den Säugling am Rand eines Waldwegs ausgesetzt.