Sexualstraftaten nehmen insgesamt zu
Sexuelle Gewalt ist nach wie vor ein Tabu. Wer Opfer wird, scheut oft den Gang zum Arzt und zur Polizei. Was das für Folgen hat.

Die Sexualstraftaten haben sich in Baden-Württemberg in wenigen Jahre verdoppelt. Dem Landeskriminalamt zufolge klettert die Zahl von 6110 im Jahr 2017 auf 12.007 im vorigen Jahr. Tendenz dieses Jahr: gleichbleibend hoch. Die Region bildet da keine Ausnahme.
"Im gesamten Sexualbereich haben wir steigende Zahlen", sagt Kriminalhauptkommissar Heiko Gieser vom Heilbronner Polizeipräsidium. Dort werden im Jahr 2017 exakt 436 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert, vergangenes Jahr sind es 868. Die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen verändert sich in der Stadt und im Landkreis Heilbronn sowie im Hohenlohekreis allerdings kaum. Experten gehen jedoch von einem großen Dunkelfeld aus.
Betroffene sind im Schockzustand
Laut Silvia Payer, Frauenbeauftragte der Stadt Heilbronn, werden nur sechs bis 15 Prozent aller Vergewaltigungen angezeigt. Von diesen erfassten Fällen ausgehend, lasse sich hochrechnen, wie viele Taten es womöglich sind.
Studien belegen, dass viele Betroffene medizinisch unterversorgt bleiben, weil sie nicht sagen möchten oder können, was ihnen passiert ist. Die Erfahrung macht auch Andrea Specht, Geschäftsführerin von Pro Familia Heilbronn. In der Beratungsstelle meldeten sich häufiger Begleitpersonen von vergewaltigten Frauen und Mädchen. "Die Betroffenen selbst sind im Schock, sind seelisch und körperlich verletzt."
Medizinische Hilfe ohne Anzeige erstatten zu müssen
Vor diesem Hintergrund ist das Angebot der medizinischen Soforthilfe nach einer Vergewaltigung im Heilbronner SLK-Krankenhaus am Gesundbrunnen zu betrachten. Seit November 2019 sind dort 30 Vergewaltigungsopfer behandelt worden, die keine Anzeige bei der Polizei erstatten wollten oder noch unentschlossen waren. Es gilt die ärztliche Schweigepflicht. Geschultes Klinikpersonal ist in der Lage, Verletzungen wie Hämatome oder Sperma rechtssicher zu dokumentieren. Vorausgesetzt, die Betroffene wünschen dies. Die Beweise werden ein Jahr in der Rechtsmedizin in Heidelberg gelagert.
Spurensicherung ist für Polizei wertvoll
Silvia Payer und Vertreterinnen von Pro Familia und SLK haben das Projekt initiiert. "Die Information, dass es dieses Angebot gibt, ist das A und O", sagt Silvia Payer. Noch sei es der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt. Wichtig sei, dass auch Begleitpersonen von Betroffenen über das Projekt informiert sind.
"Wir hatten noch nicht viele Fälle, bei denen wir auf die Spuren zurückgreifen konnten", bestätigt Kriminalhauptkommissar Gieser. Die Initiative sei etwas schleppend angelaufen. "Doch es hilft uns wahnsinnig, dass Spuren gesichert wurden, wenn jemand später Anzeige erstattet." Gerade bei Sexualdelikten sei der zeitliche Verzug bei Anzeigenerstattung ein Problem. Der Tatort sei dann meist gereinigt, am Verdächtigen lassen sich keine Spuren mehr finden, ebenso wenig am Opfer. Erfahrungsgemäß dauere es eine Zeit, bis ein Opfer die Kraft finde, zur Polizei zu gehen.
Frauenbeauftragte sieht Tabu bröckeln
Gewaltdelikte nehmen zu. In Corona-Zeiten registrieren bundesweite Hilfetelefone deutliche Zuwächse, Jüngere nutzen Online-Chat-Angebote, weiß Payer. Das bundesweite Phänomen schlage sich in den hiesigen Beratungsstellen nicht nieder. Bei häuslicher Gewalt sei aber auch in Heilbronn von Jahr zu Jahr ein Anstieg zu beobachten. "Es werden immer mehr Fälle bekannt. Das Tabu bröckelt."
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