Raser-Prozess in Heilbronn: Psychiater attestiert Angeklagtem erhebliches Reifungsdefizit
Im Heilbronner Raser-Prozess berichtet der Gutachter vom Verhältnis des Angeklagten zu seiner Mutter. Anwältin Anke Stiefel-Bechdolf las einen Brief des Angeklagten an die Opfer vor.

Im sogenannten Raser-Prozess vor dem Heilbronner Landgericht hat der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Professor Michael Günter dem 21 Jahre alten Angeklagten am Montag "ein erhebliches Reifungsdefizit" attestiert. Laut seinem Gutachten müsse der Beschuldigte nach Jugendrecht beurteilt werden.
Zuvor sagte der Vorsitzende Richter Alexander Lobmüller nach der Vorstellung des Verkehrsgutachtens, bei dem tödlichen Unfall in der Wollhausstraße habe womöglich eine Sekunde über Leben und Tod entschieden. Lobmüller gab außerdem noch einmal den rechtlichen Hinweis, dass abweichend von der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft auch Mord und dreifacher versuchter Mord infrage kommen könnte.
Raser-Prozess in Heilbronn: Angeklagter litt unter Anpassungsdruck seiner Familie
"Erhebliche Erschütterungen und innere Konflikte" hat der psychiatrische Gutachter beim Angeklagten festgestellt. "Seine Verselbstständigung ist nicht altersgemäß", sagte Günter. Vielmehr "leidet er unter dem Anpassungsdruck", den seine Familie auf ihn ausübe.
Besonders zu seiner Mutter habe er eine kindlich-jugendliche Beziehung. Das ginge so weit, dass seine Mutter nachts zu ihm ins Zimmer komme, um seine Decke zurechtzurücken und zu sehen, ob ihr Sohn schläft. "Aus psychiatrischer Sicht ist er noch nicht so reif, wie man es von einem Erwachsenen erwarten dürfte", sagte der Professor.
Intelligenz des Beschuldigten liegt im unteren Durchschnittsbereich
Obwohl die Beweisführung ergeben hat, dass der Angeklagte bei den Gesprächen mit dem Psychiater öfter die Unwahrheit gesagt hat, hielt Günter an seiner Einschätzung fest. Den Einwand von einer der Anwältinnen der Nebenkläger, Tanja Haberzettl-Prach, dass er womöglich noch öfter nicht die Wahrheit gesagt habe, um für sich selbst ein positives Gutachten zu erlangen, hielt der Tübinger Professor für unwahrscheinlich.
Zumal auch die Tests außerhalb des Gesprächs in gleiche Richtung zeigten. Zudem habe der Angeklagte einen Intelligenzquotienten von 91. "Damit liegt er im unteren Durchschnittsbereich", so Günter.
Verkehrsgutachter stellt mehrere Unfallvarianten vor
Bereits am Vormittag hatte der sachverständige Verkehrsgutachter Andreas Förch aus Neckarsulm mehrere denkbare Varianten vorgerechnet, die zum Aufprall des BMW des Angeklagten mit rund 97 Stundenkilometern in den Mercedes des Opfers hätten führen können. Hat der Angeklagte vor dem Aufprall gebremst, oder ist er ohne Verzögerung in das aus einer Ausfahrt in der Wollhausstraße fahrende Auto der Familie gekracht? Denkbar sind beide Varianten.
Dass er mit 97 Stundenkilometern in die linke Seite des Autos geknallt ist, scheint sicher. Zumindest gibt das Airbag-Steuergerät des 313 PS-starken BMW diese Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Aufpralls nach Abzug der Toleranz an. Der Fehlerspeicher des Fahrzeugs zeigt zwar zu einem nicht exakt bestimmbaren Zeitpunkt 112 Stundenkilometer an. Laut Gutachter muss das aber nicht zwingend heißen, dass der Angeklagte mit seinem Fahrzeug auch tatsächlich so schnell auf der Straße gefahren sein muss. In keinem der beiden Fälle hätte der Angeklagte den Unfall noch verhindert können. Dafür hätte er laut Gutachter den herausfahrenden Mercedes eine Sekunde früher sehen müsse, als es für ihn möglich war.
Bei der Witwe könnten Schäden am Auge zurückbleiben
Der 42 Jahre alte Familienvater starb wenige Augenblicke nach dem Zusammenstoß. Das sagte der Tübinger Gerichtsmediziner Professor Hans-Thomas Hafner. Die Ehefrau erlitt schwere Verletzungen. Unter anderem können Schäden am linken Auge als Folge des Unfalls zurückbleiben.
Die beiden Kinder wurden ebenfalls verletzt. Während der Sohn keine bleibenden Schäden hat, könnte bei der Tochter eine rund drei Zentimeter lange Narbe im Gesicht zurückbleiben, so der Gerichtsmediziner.
Angeklagter entschuldigt sich in Brief bei Opferfamilie
Konkrete Lebensgefahr habe weder für die Witwe noch für die beiden Kinder bestanden. Grundsätzlich bestehe bei so einer hohen Aufprallgeschwindigkeit in die Seite eines Fahrzeugs aber immer Lebensgefahr, betonte Förch. Rechtsanwältin Anke Stiefel-Bechdolf las am späten Nachmittag einen Brief vor, in dem sich der Angeklagte bei der Opferfamilie entschuldigte.
Richter Alexander Lobmüller gab am Montag einen weiteren rechtlichen Hinweis. Demnach komme auch dann eine Verurteilung wegen Mordes und dreifachen versuchten Mordes infrage, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt, an dem er den Unfall noch hätte verhindern können, seine Fahrt ungedrosselt fortsetzte, auch wenn er das Auto der Familie gar nicht oder nur teilweise sehen konnte. Die Verteidigung hält diese Auffassung für absurd.



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