Marsch auf Heilbronn: Als Audi in Neckarsulm vor dem Aus stand
Vor 50 Jahren stand das Audi-Werk in Neckarsulm kurz vor dem Aus – doch ein beispielloser Protestmarsch rettete den Standort. Beim Marsch auf Heilbronn solidarisierte sich 1975 die gesamte Region.
Die Nachrichten von Volkswagen, Audi und anderen Marken über drastische Sparpläne in Deutschland beschäftigen nicht nur die Belegschaften. Gewerkschaften, Politik und weite Teile der Bevölkerung sorgen sich um die Zukunft der deutschen Automobilindustrie. Werksschließungen konnten bei den meisten Herstellern zum Glück vermieden werden.
Was vielen nicht mehr bewusst ist: Das Audi-Werk in Neckarsulm stand vor 50 Jahren ebenfalls schon einmal knapp vor dem Aus, heute sind dort 15 500 Menschen beschäftigt. In den nächsten Jahren peilen die Verantwortlichen am Standort eine deutlich höhere Auslastung als in den vergangenen Jahren an. Perspektivisch schreitet zudem die Elektrifizierung immer weiter voran. Aber angesichts der aktuellen Lage in der Autobranche lohnt ein Blick zurück auf das, was sich vor 50 Jahren hier in der Region abgespielt hat.

Marsch auf Heilbronn: 1975 stand Audi in Neckarsulm vor dem Aus
Der Marsch auf Heilbronn am 18. April 1975 gehört zu den Ereignissen, die sich ins Gedächtnis der Region eingebrannt haben. Zurecht, denn Audi NSU wäre damals fast geschlossen worden. Das Aus für die Fabrik war beschlossene Sache − eigentlich ging es nur noch um den Zeitpunkt. Kurzarbeit und immer neue Gerüchte hatten in den Monaten zuvor für eine tiefe Verunsicherung in der Belegschaft gesorgt. "Wir wollen Arbeit", riefen die Teilnehmer des Marsches.
Die Existenzangst der Mitarbeiter war greifbar und real. Dass in Neckarsulm heute eine der komplexesten Fabriken des Konzerns mit den teuersten Audi-Modellen steht, ist dem Widerstand der Belegschaft und der ganzen Region zu verdanken, der in die spontane Demonstration vom 18. April mündete.
VW stand damals mit dem Rücken zur Wand, Überkapazitäten drückten. Die Ölkrise von 1973 hatte die Wirtschaftswunderjahre jäh beendet. Und Neckarsulm stand als "vereinigte Hüttenwerke" im Verruf. Zum Werk gehörten auch Fabriken in Heilbronn und in Neuenstein. Der letzte NSU, der Ro 80 mit seinem Wankelmotor, mag der Stolz der Neckarsulmer gewesen sein, aber die Nachfrage war gering und dadurch auch die Auslastung. 3500 Mark Verlust machte das Unternehmen 1975 mit jedem Ro 80. Der Audi 100 wurde zwar seit 1971 auch in Neckarsulm produziert, aber das Fahrzeug war eng mit dem Audi-Schwesterwerk Ingolstadt verbunden.
Vor 50 Jahren vor dem Aus: Wie ein Protest das Audi-Werk Neckarsulm rettete
Im Februar 1975 überrascht dann die Nachricht auf der Titelseite der Heilbronner Stimme, dass das Werk geschlossen werden soll. Was bis dahin nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert worden war − und immer wieder dementiert − ist nun plötzlich öffentlich. Im Protokoll der VW-Vorstandssitzung vom 5. Februar heißt es, dass eine grundsätzliche Einigkeit über die Notwendigkeit von Werksschließungen bestehe − neben Neckarsulm stehen auch die VW-Werke in Brüssel und Salzgitter auf der Kippe. Die Dynamik ist groß: Toni Schmücker, ein ausgewiesener Sanierer, hat gerade den Vorstandsvorsitz bei VW übernommen − in der Nachfolge des alten Audi-NSU-Manns Rudolf Leiding.
In der Region läuft derweil die Widerstandsmaschine an. Die IG Metall verteilt 50 .000 Aufkleber und 40.000 Buttons, der damalige Neckarsulmer Oberbürgermeister Dr. Erhard Klotz, seinerzeit 37 Jahre alt, schreibt Briefe und Telegramme. Die Heilbronner Stimme nimmt die Zahlen auseinander und berichtet, dass Audi NSU im Gegensatz zu VW 1974 keine roten Zahlen geschrieben habe. Auch außerhalb der Region stößt der Kampf auf ein Medienecho. "Solang mer no schnauft, is mer net tot", zitiert der "Spiegel" den Neckarsulmer Betriebsratsvorsitzenden Karl Walz.
Auch die Stuttgarter Zeitung nimmt den Kampf auf die Titelseite. Gerade eine Woche im Amt, macht Toni Schmücker die Presseberichte im Vorstand zum Thema und lässt parallel zum Schließungsplan ein Konzept erarbeiten, das die Stilllegung von Neckarsulm aussparen soll − zunächst wohl vor allem als Beruhigungspille. Bei einem Termin mit Klotz und dem damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger in Stuttgart signalisiert Schmücker nämlich auch Anfang März noch, dass Neckarsulm "in allerhöchster Gefahr" sei.
Audi-Standort Neckarsulm: Vom drohenden Aus zur Zukunftsschmiede
"Im Werksbereich 4700 Entlassungen − Werke Heilbronn und Neuenstein werden geschlossen", verkündet schließlich ein Stimme-Extrablatt am 15. April. Die Tagesproduktion wurde auf 250 Fahrzeuge festgelegt. Vor allem Ausländer verlieren ihre Stellen − sie werden mit "Rückkehrprämien" abgefunden. Außerdem gibt es Abfindungen für ältere Mitarbeiter. Obwohl der Vorstand ursprünglich das Gegenteil vorgeschlagen hatte, sind Schmücker und seine Kollegen zufrieden mit der Entscheidung, Neckarsulm "zunächst" im Einschichtbetrieb weiterzubetreiben.
Was dazu geführt hat? Das lässt sich aus den damaligen Protokollen nicht herauslesen. Aus regionaler Sicht entscheidend ist der Entschluss, den Nachfolger des VW-Porsche 914 in Neckarsulm fertigen zu lassen. Mittlerweile ist das Audi-Werk Neckarsulm zusammen mit der Manufaktur Böllinger Höfe in Heilbronn der komplexeste Standort im VW-Konzern.
Über die Jahrzehnte verdient das Unternehmen mit den hochpreisigen Modellen wie A6 und A8 viel Geld. Die Technische Entwicklung wird immer weiter ausgebaut und erweitert. Aktuell sorgen die Neuauflagen der Baureihen A5 und A6 für Auslastung − in diesem Jahr sollen mehr als 200.000 Fahrzeuge gefertigt werden. Zudem sind neue E-Autos in Aussicht und Neckarsulm wird KI-Zentrum des Audi-Konzerns.